Vorsichtig krempelt der 85-jährige Sam Pivnick einen Hemdsärmel hoch. Eine Reihe von Zahlen wird sichtbar: die Tätowierung, die ihn als ehemaligen Häftling des Vernichtungslagers Auschwitz zu erkennen gibt. Der Ort dieser Begegnung ist das Holocaust Survivors Centre (HSC) im Nord-Londoner Stadtteil Hendon. »Wo kommen Sie her?«, ist eine der ersten Fragen, die hier gestellt wird. Sie bezieht sich nicht auf den Heimatort. Die Antwort lautet meist: Dachau, Auschwitz oder Mauthausen.
Die Besucher des Zentrums stammen aus verschiedensten europäischen Ländern, sozialen Schichten und Berufsgruppen, aber sie alle haben eine Gemeinsamkeit: Sie haben den Holocaust überlebt.
Die Gräuel schlagen tiefe Wunden, die auch nach Jahrzehnten nicht verheilen. Wunden, die im Alltag sichtbar werden. »Auch wenn es draußen 40 Grad sind, servieren wir noch heiße Suppe«, sagt Rachelle Lazarus, eine der Mitarbeiterinnen des Zentrums, »und dick muss sie sein. Wässrige Suppe erinnert manche Überlebende an die schreckliche Zeit im KZ.«
Brot Auffällig sind auch die gut gefüllten Brotkörbe auf den Tischen. Wenn nach dem Mittagessen das schmutzige Geschirr abgeräumt wird, machen die Mitarbeiter einen weiten Bogen um die Brotkörbe. Warum? Diese Maßnahme geht auf den Tag zurück, als ein Besucher jemandem sein Brot wegnahm. Sofort war die Hölle los. Der Mann wollte das Brot lediglich für später aufheben. Eine Angewohnheit, die sich bei manchem Überlebenden tief eingegraben hat.
Auffällig ist auch, dass viele Besucher sich herausgeputzt haben. Was hat das mit dem Holocaust zu tun? »Wer im KZ schlecht aussah, wurde umgebracht«, erklärt die Psychotherapeutin Judith Hassan, die das Zentrum gegründet hat und es leitet. »Die Überlebenden erzählten mir, dass sie sich im Lager manchmal in die Finger stachen und das Blut auf den Wangen verrieben, damit sie nicht so blass waren.«
Das Survivors Centre hat eine lange Tradition. Die ersten informellen Treffen von Schoa-Überlebenden fanden Ende der 80er-Jahre unter der Ägide von Judith Hassan statt. Sie arbeitete damals beim Jewish Welfare Board, dem heutigen Jewish Care. Hassan arbeitete bereits seit den 70ern im Londoner Stadtteil Swiss Cottage mit Überlebenden.
Besonders deutlich ist ihr in Erinnerung geblieben, dass keiner der Leidgeprüften um Hilfe bat: »Diese Menschen hatten sich durchgeschlagen, indem sie keine Aufmerksamkeit erregten«, erinnert sich Hassan. »Sie hatten gelernt, weder schwach noch verletzlich zu wirken.« Doch manche bräuchten Hilfe, resümiert Hassan. Sie denkt dabei besonders an eine ältere Frau, die während eines Umzugs schrecklich litt, denn er weckte Erinnerungen an die Zwangsevakuierung in Deutschland.
Der Kontakt mit dieser Frau führte schließlich zur Gründung einer kleinen Gruppe. Die Zusammenkünfte fanden zunächst in den Wohnhäusern der Mitglieder statt. 1992 bezogen sie dann unter der Federführung von Jewish Care ihr derzeitiges Quartier. Im selben Gebäude ist auch der Therapiedienst Shalvata untergebracht. Der allerdings wird von manchen Besuchern etwas argwöhnisch beäugt. Psychische Krankheiten waren bei den Nazis ein Garant für den sicheren Tod.
Zuspruch Das Holocaust Survivors Centre hat inzwischen insgesamt 550 Besucher, 300 davon sind regelmäßige Gäste. Als Institution ist das HSC sehr gefragt und hat inzwischen in Ländern wie Frankreich und Israel Nachahmer gefunden. Trotz des großen Zuspruchs ist es jedoch das einzige seiner Art auf den britischen Inseln. Sein Erfolgsgeheimnis ist so simpel wie kraftvoll: Menschen, die den Holocaust überlebt haben, profitieren von der Gegenwart ihrer Leidensgenossen.
Obwohl alle seine Besucher Schreckliches hinter sich haben, ist das Zentrum kein Ort von Traurigkeit. Es wird gelacht, geplaudert, man malt gemeinsam oder hört sich Vorträge an. Manchmal werden die Besucher auch zu Workshops eingeladen. Die Männer und Frauen haben gelernt, dem Leben seine positiven Seiten abzugewinnen. »Nur die Optimisten überlebten«, begründet der 90-jährige Freddie Knoller die Einstellung der Besucher. »Die Pessimisten gaben auf, aber wir sind Optimisten.«
Der Austausch über die Vergangenheit steht nur selten auf der Tagesordnung. In der Regel wird im Zentrum Englisch gesprochen. Doch manchmal verfallen die alten Leute auch in Jiddisch, Jiddlisch (eine Mischung aus Englisch und Jiddisch) oder die Sprachen ihrer Jugendzeit, zum Beispiel Deutsch oder Ungarisch. Die meisten Besucher sprechen mit Akzent Englisch, denn es ist nicht ihre Muttersprache.
Zukunft Aber es geht in Hendon nicht nur um die Vergangenheit, sondern auch um die Zukunft. Viele Überlebende sind sich der Tatsache bewusst, dass sie nicht jünger werden. Sie wollen das Erlebte unbedingt an die nachfolgenden Generationen weitergeben. »Aus diesem Grund laden wir manchmal Schulklassen ein, denn unsere Besucher sind Augenzeugen einer Epoche, die schon lange zurückliegt«, sagt Lazarus. »Die Schüler sind meist sehr interessiert an diesem Austausch. Wir wollen die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse lebendig halten.« Freddie Knoller nickt und fügt hinzu: »Ja, damit der Holocaust nicht vergessen wird«.