Polen

Die Würde der Opfer

Neue Ausgrabungen in Sobibor Foto: dpa

Polens jüdische Gemeinde muss auch fast 70 Jahre nach Kriegsende immer wieder die Fragen beantworten: Wie erweisen wir den in der Schoa ermordeten Juden den gebührenden Respekt? Darf die Totenruhe durch Grabungen und Exhumierungen gestört werden? Was ist, wenn ein Verbrechen aufgeklärt werden soll?

Der neueste Streit betrifft den Ort Wasosz bei Bialystok in Nordostpolen. In dem heute verschlafen wirkenden 500-Seelen-Dorf hatten im Juni 1941 ähnlich wie im Nachbarort Jedwabne christliche Polen ihre jüdischen Nachbarn mit Äxten, Messern und Mistgabeln ermordet. Eine ganze Reihe von Pogromen wurde damals von den deutschen Besatzern »inspiriert«. SS-Männer versprachen den christlichen Dorfbewohnern, dass sie das Eigentum der zu ermordenden Juden behalten dürften und ihnen auch keine Strafe drohe.

exhumierung Die Staatsanwälte des Instituts für das Nationale Gedenken (IPN) nahmen die Ermittlungen im Jahr 2006 erneut auf. Da stichprobenartige Grabungen am eingefriedeten und mit einem Denkmal gekennzeichneten Massengrab jedoch ergaben, dass dort niemand verscharrt wurde, will das IPN nun offiziell die Toten exhumieren. Festgestellt werden sollen nicht nur der Ort des Massengrabs und die genaue Todesursache der Ermordeten, sondern auch ihre Zahl. Zeitzeugenangaben reichen von 100 bis zu 1200. Zudem müssten die Staatsanwälte – sollten Kugeln gefunden werden – erneut prüfen, ob nicht doch Deutsche die Täter waren.

Aber nicht nur die Einwohner von Wasosz wehren sich gegen Grabungen in ihren Wiesen und Feldern. Sie wollen nicht, dass ihr Dorf – ähnlich wie vor einigen Jahren Jedwabne – zum internationalen Symbol eines polnischen Pogroms an Juden wird. Auch ein großer Teil der jüdischen Gemeinde Polens ist dagegen, allen voran Polens orthodoxer Oberrabbiner Michael Schudrich. Er beruft sich auf die Halacha, derzufolge die Totenruhe der Ermordeten nicht gestört werden dürfe. »Eine Ausnahme kann es nur dann geben, wenn dadurch die Würde der Toten geschützt wird oder aber Leben gerettet werden«, so Schudrich.

Der Wunsch, ein historisches Verbrechen aufzuklären, rechtfertige es nicht, die Toten zu exhumieren. Ganz anderer Ansicht ist Piotr Kadlcik, der Vorsitzende des Jüdischen Gemeindebundes. Auch er beruft sich auf die Halacha: »Direkt nach dem Krieg wurden immer wieder Exhumierungen vorgenommen. Die Toten wurden feierlich auf einem jüdischen Friedhof bestattet«, erklärt er. Die Toten von Wasosz seien irgendwo verscharrt wurden, um ein Verbrechen zu vertuschen. Der Respekt gegenüber den Opfern gebiete es, die Gebeine zu exhumieren und auf dem nächstgelegenen jüdischen Friedhof in aller Würde zu bestatten.

Totenruhe In Jedwabne, wo in einem weiteren großen Pogrom katholische Polen ihre jüdischen Nachbarn ermordet hatten, wurden die Grabungen 2001 aus religiösen Gründen eingestellt. Die Zahl »1600 Ermordete«, die jahrzehntelang verbindlich war und sogar auf dem Denkmal stand, demzufolge die Deutschen das Massaker verübt haben sollten, wurde auf »360 bis 400 Juden« abgesenkt.

Mehr konnten bei der Teilgrabung nicht gezählt werden. Auf dem neuen Denkmal fehlt nun – anders als zuvor – jeder Hinweis auf die Mörder. Für Kadlcik war der Abbruch im Nachhinein ein Fehler, der sich nicht wiederholen dürfe. Für Rabbiner Schudrich hingegen war der Anblick verbrannter und verklebter Kinderknochen so traumatisch, dass er sagt: »Es gibt keine Rechtfertigung für die Störung der Totenruhe.«

Anders hatte er im Falle des ehemaligen Nazi-Vernichtungslagers Sobibor in Nordostpolen entschieden. Hier wurden nach fast acht Jahren archäologischer Suche vor Kurzem die Fundamente der Gaskammern entdeckt. Archäologen aus Israel und Polen hatten zuvor auch die Massengräber untersucht.

Gräberfeld Schudrich hatte in diesem Fall seine Zustimmung gegeben – allerdings unter der Bedingung, dass ein Rabbiner aus Warschau offiziell in das Archäologenteam aufgenommen wurde und die Ausgrabungen religiös begleitete. Die Gedenkstätte Sobibor muss nun völlig neu angelegt werden. Bisher liefen die Besucher direkt über ein Gräberfeld, ohne dies auch nur zu ahnen.

In Wasosz wird über den Gräbern wahrscheinlich sogar regelmäßig Gülle ausgebracht und Ackerbau betrieben. Warum im Fall des Nazi-Vernichtungslagers Sobibor die Totenruhe gestört werden darf, im Fall des Pogroms im Dorf Wasosz aber nicht, ist nicht nur vielen Juden in Polen ein Rätsel. Der Streit dauert an.

Kommentar

In Zohran Mamdanis New York werden Juden geduldet, nicht akzeptiert

»Liberale Zionisten« müssen in der Regierung des neuen Bürgermeisters keinen »Lackmustest« fürchten. Was beruhigend klingen soll, zeigt, wie stark der Antisemitismus geworden ist - nicht zuletzt dank Mamdani

von Gunda Trepp  05.11.2025 Aktualisiert

New York

ADL will Mamdani unter Beobachtung stellen

Die Anti-Defamation League erwartet vom neugewählten New York Bürgermeister nichts Gutes. Jetzt hat die jüdische Organisation angekündigt, man werde genau hinschauen

 05.11.2025

Amsterdam

Wegen IDF-Kantor: Concertgebouw sagt Chanukka-Konzert ab

Die renommierte Musikhalle hat wegen des geplanten Auftritts von IDF-Chefkantor Shai Abramson das alljährliche Konzert abgesagt. Die jüdische Gemeinschaft ist empört und will gegen den Entscheid klagen

von Michael Thaidigsmann  05.11.2025 Aktualisiert

Kommentar

Mamdanis demokratische Steigbügelhalter

Führende Politiker der Demokraten haben aus Opportunismus die Wahl des Israel-Hassers Zohran Mamdani zum New Yorker Bürgermeister ermöglicht - und so in Kauf genommen, dass aus Worten gegen Israel wieder Gewalt gegen Juden werden könnte

von Menachem Z. Rosensaft  05.11.2025

Vatikan

Theologe: Antisemitismus bei Vatikan-Konferenz kein Einzelfall

Der Salzburger Theologe Hoff berichtet über Eklats bei einer jüngsten Vatikan-Konferenz. Ein Schweizergardist soll sich verächtlich über Mitglieder einer jüdischen Delegation geäußert und in ihre Richtung gespuckt haben

 04.11.2025

Spanien

Francos Erbe

Das Land, das den Sefardim einst ihren Namen gab, verlangt seinen Juden heute einiges ab

von Valentin Suckut  03.11.2025

»Nobody Wants This«

Alle wollen Esther

Einer der Gründe, die Netflix-Serie zu sehen, ist Jackie Tohn. Die Schauspielerin mit dem Blick, der Stahl schmelzen kann, tanzt gern auf vielen Hochzeiten

von Sarah Thalia Pines  03.11.2025

Slowakei

Neues Leuchten in Trenčín

Eine restaurierte Synagoge wird zum Herzstück der Kulturhauptstadt 2026 – und zum Zeichen jüdischer Erneuerung

von Kilian Kirchgeßner  03.11.2025

USA

Unsicher in New York

Zohran Mamdani ist der mögliche nächste Bürgermeister der Metropole – und für viele Juden ein Problem

von Mark Feldon  30.10.2025