Als Dr. Anne Schuchat Ende Februar vor einem Fernsehpublikum sprach, stand sie auf dem Podium im Briefing Room des Weißen Hauses neben Präsident Donald Trump, Vizepräsident Mike Pence und mehreren Regierungsbeamten – klein, zierlich, mit welliger Bob-Frisur und nerdig-schicker Hornbrille.
Mit einem unbestimmt leidenden und zugleich elegant-neutralen Gesichtsausdruck schaute sie in die Ferne, während Trump vor dem versammelten Pressekorps tönte: »Wir sind vorbereitet.« Und: Das Risiko des neuartigen Coronavirus sei für Amerikaner »sehr gering«.
Als es an ihr war zu sprechen, erklärte Schuchat – kurz, klar und unaufgeregt: Wie die Kurve der Infektion in den nächsten Wochen und Monaten verlaufen werde, sei vollkommen unklar.
KAmeras Seither trat Anne Schuchat, Ärztin und Vizechefin der amerikanischen Gesundheits- und Seuchenschutzbehörde CDC und dort aktuell für das Krisenmanagement der Corona-Pandemie zuständig, nicht mehr gemeinsam mit dem Präsidenten oder mit einem anderen Vertreter der amerikanischen Regierung vor die Kameras.
Jene surreale Szene, die sich vor gerade einmal eineinhalb Monaten im Presseraum des Weißen Hauses abspielte, scheint aus einer anderen Zeit zu stammen. Mittlerweile sind die USA zum Epizentrum der Corona-Krise geworden, es sind mehr Menschen mit Covid-19 erkrankt als überall sonst auf der Welt, das Leben steht still, die Kliniken, insbesondere in einigen Metropolen, gleichen Kriegs- und Seuchenlazaretten.
Maulkorb Nicht nur Schuchat ist in diesen Tagen weitgehend von den Bildschirmen verschwunden. Auch ihre Behörde, die CDC – die eigentlich eine Schlüsselrolle im größten Gesundheitsnotstand der amerikanischen Geschichte spielen sollte –, scheint auf ein Nebengleis verbannt zu sein. Die sonst regelmäßig stattfindenden Pressebriefings sind rar geworden, CDC-Direktor Robert Redfield äußert sich nur sporadisch in den Medien. Die New York Times berichtete, die US-Regierung habe der Behörde eine Art Maulkorb verpasst.
Ihre Vorfahren waren Schächter − dies gab der Familie den Namen.
Die CDC sei weiterhin eng in das Krisenmanagement von Covid-19 eingebunden, wiegelte Schuchat Ende März in einem seltenen Interview mit der Nachrichtenwebsite »The Hill« in Washington ab. Dann setzte sie hinzu: »Ich arbeite seit 32 Jahren für die CDC. Eine Politisierung von Seuchen ist nicht hilfreich.« Es gehe um den Kampf gegen ein Virus, ein sehr ernst zu nehmendes Virus. »Meine Erfahrung hat mir gezeigt: Demut ist wichtig im Umgang mit Pandemien.«
Ein kleiner, feiner Seitenhieb gegen die Trump-Administration, die die Gefahr des Virus zunächst kleingeredet und kostbare Zeit in der Frühphase des Ausbruchs verspielt hatte.
ERfahrung Ihre Erfahrung mit globalen Seuchen kann Anne Schuchat niemand absprechen. Seit 1988 arbeitet die 59-jährige Medizinerin als Angehörige des uniformierten U.S. Public Health Service, des öffentlichen Gesundheitsdienstes der USA, für die CDC, mittlerweile im Admiralsrang. Sie diente unter sechs Präsidenten, von Ronald Reagan über Bill Clinton bis Donald Trump.
Dabei war es nie Anne Schuchats Ziel, im täglichen Austausch mit der hohen Politik zu arbeiten. Eigentlich wollte sie Landärztin werden, mit zwei oder drei Mitarbeitern und höchstens 100 Patienten in einer kleinen Praxis irgendwo in Amerika. »Ich fand den Gedanken schön, mich um einzelne Menschen kümmern zu können, einen nach dem anderen«, erzählte sie in einem früheren Interview.
Kindheit Diese bodenständige Sehnsucht mag Familientradition sein: Schuchat wuchs als viertes von fünf Kindern in einer konservativen jüdischen Familie in der Hauptstadt Washington auf. Der Großvater und dessen Vorfahren arbeiteten in einer Kleinstadt in West Virginia als Schochtim, koschere Schlachter. Dieser Beruf gab der Familie ihren Namen.
Vom Schächten zur Seuchenkontrolle sei der Weg gar nicht so weit gewesen, sagt Anne Schuchat. »Man könnte sagen, dass meine Familie seit Generationen im Bereich der Lebensmittelsicherheit, der öffentlichen Hygiene und des Gesundheitsschutzes arbeitet.«
Ausbildung Schuchat studierte am privaten Swarthmore College in Pennsylvania und an der renommierten Dartmouth University in New Hampshire Medizin, absolvierte anschließend eine Facharztausbildung zur Internistin am Veteranenkrankenhaus der New York University in Manhattan. Doch anstatt eine Praxis auf dem Land zu eröffnen, heuerte sie im Alter von 28 Jahren bei der CDC als Epidemiologin an – im Jargon der Behörde: als Seuchendetektivin.
Sie reiste rund um den Globus, von Costa Rica bis Gambia, von China bis Sierra Leone, erkundete Herkunft und Verbreitungswege von Infektionskrankheiten wie Meningitis, Milzbrand, Hämorrhagisches Fieber, SARS, Ebola und Zika.
Schweinegrippe Beim Ausbruch des H1N1-Virus, der sogenannten Schweinegrippe in den USA im Jahr 2009, wurde Schuchat einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Sie gab Pressekonferenzen und informierte den Kongress. In dieser Zeit war sie »eine verlässliche Stimme der Ruhe und Vernunft mitten im Sturm aus Angst und Aufregung«, schrieb die Tageszeitung »The Atlanta Journal-Constitution«.
Ihre klare, gelassene, geerdete Art ist längst zu ihrem Markenzeichen, zu ihrem Führungsstil geworden. Als Vizechefin einer Superbehörde managt sie gut 10.000 Mitarbeiter, berät Politiker und koordiniert bei Seuchenausbrüchen die Krisenreaktion mit anderen Gesundheitsagenturen weltweit.
Behörde Die CDC hat ihren Sitz in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia, auf einem 61.000 Quadratmeter großen Gelände in unmittelbarer Nachbarschaft der angesehenen Emory-Universität. Die verschachtelten Gebäude sind verbunden durch Skywalks und unterirdische Gänge, sie sind gesäumt von sorgsam manikürten Blumenbeeten und umgeben von Steinmauern. Die verspiegelten Fassaden reflektieren die helle Frühlingssonne.
Herzstück der CDC ist das Emergency Operations Center, kurz: EOC, das als Krisen-, Kommando- und Kommunikationszentrale zugleich dient. In einem rechteckigen, fensterlosen Raum mit niedrigen Decken sitzen Mitarbeiter in langen Schreibtischreihen vor zwei oder drei Computerbildschirmen gleichzeitig. Über riesige Monitore an den Wänden flackern interaktive Karten, Tabellen und Grafiken, die sich ständig aktualisieren. Hier im EOC lässt sich Schuchat mehrmals am Tag von ihren Kollegen über die aktuelle Lage informieren.
Zu den Mitarbeitern der CDC gehören Mediziner, Naturwissenschaftler, Ökonomen, Ingenieure, IT-Experten und Katastrophenschützer. Sie sind in den USA und in rund 50 Ländern rund um den Globus im Einsatz. Ihr Auftrag: die Seuchen der Vergangenheit zu analysieren, die Epidemien der Gegenwart zu verstehen und einzudämmen, den Krankheitsausbrüchen der Zukunft ein paar Schritte voraus zu sein.
Wuhan So war es auch im Fall des neuartigen Coronavirus: Die CDC warnte bereits zu Jahresbeginn, dass sich das Virus von seinem ersten Epizentrum in der chinesischen Stadt Wuhan über den Globus verbreiten und irgendwann unweigerlich auch die USA erreichen werde. Es sei keine Frage, ob, sondern wann das passiere, sagte Schuchat in einer Pressekonferenz im Februar – »und wie viele Menschen dann infiziert werden«.
Die öffentliche Aufklärung, die Kommunikation über Infektionsausbrüche – von Salmonellen über Ebola bis zu Covid-19 − ist für Schuchat und ihre Mitarbeiter stets ein Balanceakt: Sie müssten warnen und informieren, wollten aber keine Hysterie verbreiten, betonte Schuchat. »Manchmal ist der Schaden, der durch Gerüchte und Mythen hervorgerufen wird, größer als der, den die Krankheitserreger selbst verursachen.«
familie Anne Schuchat zieht ihre aufmerksame Ruhe, ihre pragmatische Gelassenheit auch aus ihrem privaten Umfeld. Seit 28 Jahren ist sie verheiratet. Ihrem Mann attestiert sie einen »besonderen Sinn für Humor«. Das Paar hat keine Kinder, aber zahlreiche Nichten und Neffen.
Neben ihrem Familiensinn fühlt sich Schuchat auch anderen jüdischen Werten und Traditionen verpflichtet.
Vor allem während einer Pandemie sei es wichtig, die Stigmatisierung einzelner Gruppen zu vermeiden, sagte Schuchat vor Kurzem der »Times of Israel«, seien es bestimmte ethnische oder soziale Gruppen. Die Geschichte der Juden liefere zahlreiche Beispiele von Stigma und Ausgrenzung, sagt sie. »Wir haben Erfahrung mit der Angst vor dem Fremden. Wir waren die Fremden, immer wieder und an sehr vielen Orten.« Doch vor dem Virus seien alle gleich, sagt sie. »Das Virus diskriminiert nicht.«
Als Jüdin warnt Schuchat vor Stigma und Ausgrenzung.
In der anschwellenden Corona-Krise kam es in den USA immer wieder zu Übergriffen auf asiatischstämmige Amerikaner. Auch Präsident Trump nannte den Covid-19-Erreger bis vor Kurzem noch »das ausländische« oder »das chinesische Virus«.
film Auch wenn ihre Arbeit bei der aktuellen US-Regierung nicht hoch im Kurs stehen mag, kann sich Anne Schuchat doch an einem ganz besonderen Ruhm erfreuen. So hat sich Hollywood vor einigen Jahren von ihrem ganz eigenen spröden Charisma inspirieren lassen. In Steven Soderberghs Seuchen-Thriller Contagion ist die Figur der Epidemiologin Dr. Erin Mears der CDC-Vizechefin nachempfunden. Schauspielerin Kate Winslet traf sich mit Schuchat in Atlanta, sprach mit ihr über ihre Arbeit, aber auch darüber, welche Kleidung, Schuhe und Frisur sie während eines Einsatzes als Seuchenjägerin im Feld trage.
»Ich habe sofort meine Mutter angerufen und ihr erzählt, dass mich Kate Winslet nach meinem Haar gefragt hat«, erinnerte sich Schuchat in einem Interview.
Die Dreharbeiten zu dem Film fanden zwar bereits vor zehn Jahren statt – Contagion kam 2011 in die Kinos –, aber seit dem Ausbruch von Covid-19 erlebte der Thriller ein Comeback, sprang auf den Video-Charts von Amazon an die Spitze und ist als DVD derzeit komplett ausverkauft.
»Ich habe damals schon gesagt, dass der Film ziemlich realistisch ist«, sagte Schuchat der »Times of Israel«. Und heute? Da weise die Handlung »einige Parallelen« zur Corona-Krise auf. Wirklich überrascht hat sie das nicht. Schließlich sei ihr nach 32 Jahren im Kampf gegen die Seuchen der Welt sehr wohl bewusst: »Das nächste Virus ist nur ein paar Flugstunden von uns entfernt.«