Ägypten

Die unsichtbaren Juden vom Nil

Bald sehen wir wieder den Nil», sagt Albert Arie und lässt seinen Blick über das abendlich erleuchtete Kairo schweifen. Vom Balkon seiner Wohnung hat der 85-Jährige fast ungehindert Blick auf den Tahrirplatz im Süden und das Ägyptische Museum im Westen. Dahinter steht, schon halb dem Abriss zum Opfer gefallen, die Parteizentrale des Anfang 2011 gestürzten Präsidenten Husni Mubarak.

«Früher war hier alles leer, keine Ministerien, keine Hotels – nichts, was den Blick auf unseren wunderschönen Nil verdeckt hat.» Seit mehr als 80 Jahren lebt Aries Familie hier. Sie bezog die Wohnung im obersten Stock des Hauses gleich nach der Fertigstellung im Jahr 1934 – als Albert Arie noch ein Jude war.

«Ich bin 1966 zum Islam konvertiert», sagt er, den Rücken gegen die noch warme Hauswand gelehnt, «wegen der Liebe.» Ein kleines Lächeln zuckt um seine Mundwinkel. Fast 50 Jahre sind er und seine Frau verheiratet, zwei Söhne haben sie und mittlerweile fünf Enkel. Stolz zeigt er Fotos seiner Familie, ohne Bitterkeit über sein verlorenes Erbe.

Gesetz Arie ist einer von vielen Juden, die ihre Religion zugunsten der Ehe abgelegt haben. Denn wer in Ägypten eine Muslimin heiraten will, muss selbst Muslim sein. So will es das Gesetz – auch heute noch. Zwar ist es muslimischen Männern gestattet, außerhalb der eigenen Religion zu heiraten, Frauen jedoch genießen dieses Recht nicht.

Auf den ersten Blick mag dieses Problem marginal erscheinen, gelten doch nach jüdischem Gesetz nur jene Kinder als Juden, die von einer jüdischen Mutter geboren werden. Doch in Ägypten ist alles anders: «Hier gilt das Gesetz des Islam für alle», sagt Arie. Und das bedeutet auch, dass die Religion über den Vater des Kindes weitergegeben wird. Also ist nur Jude, wer einen jüdischen Vater hat. Um seine Religion an die Söhne weiterzugeben, hätte Arie eine Jüdin oder ein Koptin, eine ägyptische Christin, zur Frau nehmen müssen. Doch letzteren ist es genau wie Musliminnen verboten, außerhalb ihrer Religionsgemeinschaft zu heiraten.

Offiziell gibt es heute in Ägypten noch zwei jüdische Gemeinden, in Kairo und in der Hafenstadt Alexandria. Beide zusammen haben weniger als 20 Mitglieder. Vor rund 100 Jahren waren es noch 80.000. Seit der Staatsgründung Israels 1948 ist die Zahl der Juden in Ägypten drastisch gesunken. In drei großen Wellen, 1950, 1956 und 1967, wanderten um die 78.000 Juden aus, rund 35.000 davon nach Israel. Viele wurden enteignet oder gar inhaftiert und anschließend zur Emigration gezwungen. Nur wenige hielten dem Druck stand und blieben in Ägypten.

Eine unbekannte Größe sind jene, die wie Albert Arie im Laufe ihres Lebens konvertieren mussten, sowie die Kinder, die zwar von einer jüdischen Mutter geboren wurden, vom ägyptischen Staat jedoch nicht anerkannt werden. Sie sind die unsichtbaren Juden Ägyptens.

Polizei Während Arie völlig unbehelligt im Herzen Kairos wohnt, leben die verbliebenen Juden unter den strengen Augen der Polizei.

Dem Besucher der Eliyahu-HaNavi-Synagoge in Alexandria zeigt sich ein wenig freundliches Bild. Das große schmiedeeiserne Tor, hinter dem sich der Vorplatz zur Synagoge erstreckt, ist mit dicken Ketten verschlossen. In einem Verschlag sitzt ein mürrischer Wachmann, der erst nach mehrmaligem Rufen auf die Besucher reagiert. Man solle den Seiteneingang nehmen, sagt er. Auch dort eine dicke Metallkette. Fünf Polizisten sitzen in einem Wachhaus vor der Synagoge (drei von ihnen ohne Uniform), fünf weitere warten in der Synagoge und dem Verwaltungstrakt der Gemeinde.

Seit 30 Jahren sei die Synagoge nicht mehr genutzt worden, erzählt die (muslimische) Gemeindesekretärin. Man habe noch über 70 Torarollen, die meisten kämen aus jenen Synagogen, die die Gemeinde verkauft hat. Nur noch zwei Bethäuser sind heute in Gemeindehand. Die ehemalige jüdische Schule ist an den Staat vermietet. Hebräisch wird dort schon lange nicht mehr gelehrt.

Plaketten In der Synagoge schmücken goldene Tafeln die Sitzreihen. Jede trägt den Namen eines Gemeindemitglieds. Die Beschriftung erstreckt sich über mehrere Reihen, Namen wie Levy und Mansour stehen auf den Plaketten. Heute gibt es nur noch zehn Gemeindemitglieder: acht Frauen und zwei Männer. Einer der beiden ist der Präsident der Gemeinde, Youssef Ben Gaon. Mit seinen 60 Jahren ist er das jüngste Gemeindemitglied. Kinder habe er keine, sagt er. Ja, er sei verheiratet gewesen, aber das habe nicht funktioniert.

Angesprochen auf die Regelung, dass außer Juden nur Nicht-Ägypter die Synagoge betreten dürften, schaltet sich die Sekretärin ein und holt zu einer ausschweifenden Antwort aus. Das sei so nicht richtig, sagt sie, man müsste hier einfach vorsichtig sein, egal welche Nationalität es betreffe.

Keine zehn Minuten sind vergangen, als plötzlich ein bulliger Mann durch die Tür kommt und Gaon mitteilt, dass sie jetzt gehen müssen. «Entschuldigung», sagt Gaon, «eine Frau aus der Gemeinde ist krank. Wir müssen sie jetzt besuchen.» Mitten in seiner wöchentlichen Sprechstunde.

Der schwierige Umgang mit den ägyptischen Juden spiegelt sich auch in den Medien wider. So zum Beispiel in der Fernsehserie Harit al-Yahud, die das Leben in Kairos gleichnamigem einstigen jüdischen Viertel zeigt. In schillernden Bildern zeichnet sie die Romanze zwischen der jungen Jüdin Leila und dem Muslim Ali während der 40er-Jahre. Tapfere ägyptische Soldaten müssen gegen den jungen Staat Israel an die Front, bourgeoise jüdische Familien stehen derweil daheim in Kairo für die ägyptische Sache ein. Vor einigen Wochen, im Fastenmonat Ramadan, wurde Harit al-Yahud zum weltweit gefeierten Überraschungserfolg.

Albert Arie hat früher selbst für kurze Zeit im Kairoer jüdischen Viertel gelebt. Er sieht keinen Zusammenhang zwischen der Realität und der Serie. «Das Viertel war bitterarm, kaum jemand konnte lesen und schreiben, geschweige denn mehrere Fremdsprachen sprechen. Und ein Bordell gab es sicher auch nicht.» Für ihn sei vor allem kommerzielle Gier verantwortlich für die verfälschte Darstellung, die Kairo wie das Berlin der Goldenen Zwanziger erscheinen lässt. Heute ist das Viertel ein Teil des touristischen Basars in der Nähe der bekannten Al-Azhar-Moschee. Ihre früheren Bewohner sind inzwischen längst vergessen.

In Aries eigener Nachbarschaft, dem früheren Zentrum der Kairoer Intellektuellenszene, wisse eigentlich niemand, das er einst Jude war. Hin und wieder lasse er sich mit ausländischen Journalisten auf Gespräche über seine Vergangenheit ein. Besonders seit der Revolution sei das Interesse an der Geschichte der ägyptischen Juden wieder erwacht, auch unter jungen Ägyptern, sagt er. «Vor der Revolution wurde die Geschichte umgeschrieben, wir Juden hatten darin keinen Platz. Alles vor dem Militärputsch 1952 sollte vergessen werden.» Arie schüttelt wütend den Kopf. Mit der Revolution sei dieses Tabu gebrochen worden. Viele seien sehr neugierig. «Wir haben die Chance, die Geschichte zu korrigieren.»

Gefängnis Zu den letzten Bewahrern des jüdischen Erbes in Kairo gehört die Familie Haroun. Obwohl Arie früher nie besonders religiös war, verbindet ihn bis heute eine tiefe Freundschaft sowohl mit der Gemeinde als auch mit Familie Haroun. «Magda ist wie eine Tochter für mich», sagt er. Magda Haroun ist seit einem Jahr Präsidentin der jüdischen Gemeinde in Kairo und folgt damit ihrer Schwester nach, die 2014 gestorben ist. Wie auch Harouns Vater, der Anwalt Shehata Haroun, glaubte Arie an den Kommunismus – was beide ins Gefängnis brachte. Bis zu Harouns Tod 2001 waren die beiden Männer enge Freunde.

«Ich wurde zu acht Jahren verurteilt», sagt Arie, «aber 1959 kamen sie in meine Zelle und sagten, ich könne gehen, wenn ich wolle. Raus aus dem Gefängnis, dachte ich. Aber sie meinten auch: Raus aus Ägypten. Als ich mich weigerte, blieb ich weitere fünf Jahre in Haft und kam in ein Arbeitslager.»

Ein Ölporträt in Aries Wohnzimmer erinnert an diese Zeit. Ein Mitinsasse malte das Bild von ihm: Man sieht Arie auf einem schmalen Metallbett sitzen, im Hintergrund steht ein alter Holzkohleofen. Arie hat seine Beine übereinander geschlagen, die linke Hand umfasst die Stäbe am Fußende, mit der rechten Hand stützt er sein Kinn. Die hellbraunen Haare stechen neben dem grünen Sträflingsanzug hervor. Als Arie schließlich 1964 entlassen wird, leben nur noch wenige Tausend Juden in Ägypten.

Konversion Doch auch nach seinem Übertritt zum Islam wurde das Leben für den gebürtigen Kairener nicht einfacher. «Als 1970 Sadat die Macht ergriff, gab es wieder neue Bürokratie. Man erkannte nicht an, dass ich konvertiert war. Nach den Maßstäben der neuen Herrscher war ich noch immer Jude.»

So verweigerte man Arie Ausweispapiere, die in Ägypten neben Namen und Geburtsort auch Angaben über die Religionszugehörigkeit enthalten. «Erst mit dem Camp-David-Abkommen 1978 wurde ich wirklich ein hundertprozentiger Bürger Ägyptens», sagt Arie.

In den vergangenen Jahren habe es nur selten Probleme gegeben, erinnert sich Arie. Etwa als die Heiratspläne seiner Söhne von den Familien der Frauen abgelehnt wurden mit der Begründung, die jungen Männer stammten aus einer jüdischen Familie. «Meine Söhne sind Muslime», betont Arie, «sie interessieren sich nicht dafür, dass ihr Vater früher einmal Jude war.»

Magda Haroun sieht sich genau dem entgegengesetzten Problem gegenüber: Sie hat zwei Töchter aus erster Ehe. Nach ägyptischem Recht sind sie, ebenso wie ihr Vater, Muslime. Innerhalb der jüdischen Gemeinde ist es kein Geheimnis, dass sie mit ihrem Schicksal nicht einverstanden sind. Ob sie das Erbe ihrer Familie antreten, das Judentum in Ägypten zu verteidigen und zu bewahren, darüber schweigt sich Magda Haroun aus.

Für Arie endet die Geschichte der ägyptischen Juden mit seiner Ziehtochter Haroun. Er lässt seinen Blick über die leuchtenden Lichter der Stadt unter ihm wandern. «Das ist eine verlorene Welt», seufzt er, bevor er langsam in die Kühle seiner Wohnung zurückkehrt.

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