Die mit der »Pro Cultura«-Urkunde ausgezeichnete Familie Schmidt ist in der Kleinstadt Pápa, zwei Autostunden westlich von Budapest, schon seit jeher unermüdlich aktiv im städtischen Kulturleben. So wundert es nicht, dass die älteste Tochter Orsolya nicht lange überlegte, als ihr im Jahr 2016 die Leitung des Vereins »Jüdisches Kulturerbe von Pápa und Umgebung« angeboten wurde.
»Eigentlich war nur mein Großvater mütterlicherseits jüdisch«, erzählt sie. Er habe sich kaum an die Traditionen gehalten, sei aber trotzdem jeden Freitag in die Synagoge gegangen. Im Familienalltag beschränkte sich das Judentum »lediglich auf die alljährliche Holocaust-Gedenkfeier und dass wir zu Opas Grab gingen«, so Orsolya Schmidt. Es sei jedoch bestimmt kein Zufall gewesen, dass ihr immer wieder Bücher zum Judentum in die Hände gerieten und ihr Interesse weckten. Und als dann im Jahr 2006 der Verein Jüdisches Kulturerbe gegründet wurde, sei sie sofort Mitglied geworden.
Mitte des 19. Jahrhunderts zählte die jüdische Gemeinde in Pápa etwa 3000 Mitglieder, fast ein Viertel der Stadtbevölkerung. Ihre im Jahr 1846 eröffnete Synagoge war die drittgrößte des Landes. Den Holocaust hat kaum einer der 2500 Verschleppten überlebt, und die meisten, die zurückkamen, haben Pápa später verlassen. »Heute kommt nicht einmal ein Minjan zusammen, deswegen sind wir keine Glaubensgemeinschaft mehr«, gewährt die gelernte Journalistin Einblick. Doch langfristig werde es, so hoffe sie, wieder dazu kommen.
Das einstige Leben von 41 Familien rekonstruiert
Das ursprüngliche Ziel des Vereins sei die Aufarbeitung der Geschichte und die Pflege der Bräuche des Judentums von Pápa und ihrer Umgebung durch Ausstellungen, Publikationen und Veranstaltungen, sagt Schmidt. Durch einen Aufruf an ehemalige Gemeindemitglieder sowie eine Archivrecherche konnten Hunderte Dokumente und fast 600 Fotos gesammelt und gesichert werden. Sogar aus den Vereinigten Staaten und Israel wurden Dokumente und Bilder geschickt.
Aus diesem Material entstand 2012 in der Synagoge von Pápa die Ausstellung »Vergessene Nachbarn«, in der das einstige Leben von 41 Familien rekonstruiert wurde. Auch wurde ein Buch über die Vergangenheit der Juden von Pápa veröffentlicht. Seit Neuestem arbeitet auch die Stadtregierung mit. Sie hat einen historisch-fachkundigen Mitarbeiter eingestellt, der die regionale Geschichte bearbeitet, unter anderem die der Juden.
Und dann hat der Verein auch noch eine Jüdische Freie Universität gegründet. Seitdem werde die Geschichte der regionalen Juden auch in einem breiteren Kontext vorgestellt und diskutiert. Die Auftritte bekannter Experten sorgen inzwischen für Interesse weit über die Stadtgrenzen hinaus. An größeren Veranstaltungen nehmen bereits mehrere Hundert Interessenten teil.
Und nicht nur Juden seien eingeladen. Jüngst seien rund 70 Lehrer und Lehrerinnen aus dem ganzen Land zu einer Fortbildung nach Pápa gereist. Das sind Riesenerfolge für die Vereinschefin, die mittlerweile – um ihren Aufgaben besser gerecht werden zu können – den Masterkurs des Budapester Rabbinerseminars in Jüdischer Kulturgeschichte belegt hat. Im vergangenen Jahr ist Schmidt offiziell konvertiert, denn »aus halachischer Sicht galt ich ja nicht als Jüdin«.
Es ist noch zu sehen, wie prachtvoll die Synagoge einst gewesen sein muss.
Einer der Schwerpunkte liegt auf den jüdischen Festen. Purim oder Pessach werden gemeinsam begangen, und immer häufiger trifft man sich zum Schabbat. Der Kulturverein hat mittlerweile rund 50 Mitglieder, allerdings sind nicht alle jüdisch. Auch haben sich einige Jugendliche gemeldet, die erst vor Kurzem von ihren jüdischen Wurzeln erfuhren. Das Interesse, mehr darüber zu lernen, ist groß. Dem »Nachwuchs« wird in Gesprächen und durch Unterricht geholfen, ihrer Religion näherzukommen.
Kontakt zu christlichen Gemeinden
Doch nicht alle Juden der Stadt lockt das Vereinsleben. »Wir wissen von Personen jüdischer Abstammung, die immer noch Bedenken haben, sich dazu offen zu bekennen«, bedauert Schmidt. Grund sollten sie keinen haben, denn die Gruppe genieße hohes Ansehen, und antisemitische Attacken seien ihr bisher nicht bekannt.
Nur einmal sei Bürgermeister Tamás Áldozó von einem Mitglied der rechtsextremen Jobbik-Partei angefeindet worden, weil er regelmäßig an jüdischen Feiern teilgenommen habe. »Das werde ich weiterhin tun und immer wieder in der ersten Reihe sitzen!«, soll er erwidert haben. Seine positive Einstellung bekundet der Bürgermeister auch im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen: »Ich halte es für wichtig, dass der Verein unseren nichtjüdischen Mitbürgern einen Einblick in die Bräuche gewährt und wir sie damit kennenlernen können.«
Auch zu christlichen Gemeinden pflegt der Verein gute Beziehungen. »Der Pfarrer der reformierten Kirche macht am Sonntag in den Gottesdiensten sogar Werbung für unsere Veranstaltungen«, berichtet Orsolya Schmidt begeistert.
Ein schmerzlicher Anblick aber bleibt der desolate Zustand der Synagoge. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie von der Wehrmacht als Pferdestall missbraucht, die Sitzbänke wurden verheizt. Zwar wurde das Gebetshaus 1945 wieder eingeweiht, doch aufgrund der durch die Schoa fast ausgelöschten Gemeinde blieb das Gebäude für rituelle Zwecke weitgehend ungenutzt. Im Sozialismus wurde es als Möbellager verwendet. An diese unwürdige Zeit erinnert noch die Laderampe am Eingang.
Zähe, leidenschaftliche Beharrlichkeit
Inzwischen hat die Stadtverwaltung die Synagoge übernommen. »Die Sanierungspläne liegen seit Jahren in der Schublade, doch weil das Geld fehlt konnte die Arbeit leider nicht begonnen werden«, bedauert der Bürgermeister die Situation. Aber glücklicherweise sei das Bauwerk stabil, sodass es für Veranstaltungen genutzt werden kann. Noch immer kann der Betrachter sehen, wie prachtvoll die Synagoge einst gewesen sein muss. Man kann sie virtuell besuchen.
Vor einem Jahr wurde Schmidt mit dem Judentums-Preis des Ungarischen Verbandes der Jüdischen Glaubensgemeinschaften geehrt. »Seit vielen Jahren kämpft sie mit zäher, leidenschaftlicher Beharrlichkeit gegen die unabänderliche Vergangenheit. Aber nicht nur gegen, sondern auch für die Vergangenheit, damit sie zur Zukunft werden kann, wodurch das ehemalige Judentum von Pápa im Leben der Stadt weiterhin präsent bleibt«, heißt es in der Begründung. Kol Hakavod, Frau Schmidt!