Über die Frage nach dem bewegendsten Moment ihrer Arbeit muss Pascale Bernheim kurz nachdenken. Denn große Gefühle begleiten jede Suche nach Instrumenten, die jüdischen Familien unter der NS-Besatzung in Frankreich entrissen wurden.
Dann berichtet die 62-Jährige von der Rumpelkammer unter einer Treppe im Warschauer Nationalmuseum, in der Mitarbeiter während des Zweiten Weltkriegs eine Stradivari vor den Nazis versteckten. »Dass dieses Versteck noch so erhalten war wie damals, hat mich sehr berührt.« Denn schließlich war Warschau fast völlig zerstört, und die Spur der wertvollen Geige, die die Nazis 1944 entdeckt hatten, verlor sich nach Kriegsende.
Stradivari Bernheim war im Herbst in die polnische Hauptstadt gereist, um die wahren Besitzer des Instruments aus dem Jahr 1719 zu finden, das zehn Millionen Euro wert sein könnte. Ein anonymer Sammler hatte sich an die Gründerin des französischen Vereins Musique et spoliations (Musik und Raub) gewandt, weil er glaubt, die verschollene Stradivari in den Händen zu haben, und sicherstellen möchte, dass es sich nicht um ein Raub-Instrument handelt. Die Reise brachte zwar kaum neue Erkenntnisse, doch Bernheim will ihre Recherchen fortsetzen.
Allein in Paris wurden aus 40.000 Wohnungen jüdischer Familien 8000 Klaviere abtransportiert.
Die Tage in Polen zeigten ihr einmal mehr, wie mühsam die Suche nach den Zehntausenden Instrumenten ist, die die Nazis während des Zweiten Weltkriegs allein in Frankreich raubten. »Es ist, als ob man Teile eines Puzzles zusammenfügt«, berichtet die Frau mit der Brille und den dunklen Locken.
Seit der Gründung ihres Vereins 2017 erhält sie immer wieder Mails von Familien, die auf der Suche nach Instrumenten sind oder selbst welche entdeckt haben, deren Herkunft ihnen unbekannt ist. »Erst kürzlich schrieb mir eine Familie, die eine Geige auf dem Dachboden fand, obwohl bei ihnen niemand Geige spielt.«
Bernheim schaut sich dann das Instrument an und forscht nach den wahren Besitzern. Es ist, als ob sie das Ende eines Fadens in die Finger bekommt und sich auf die Suche nach dem anderen Ende macht: in Archiven, in Gesprächen mit Nachfahren, Instrumentenbauern oder Historikerinnen und Historikern. Wie in einen staubigen Keller steigt sie in die Geschichte hinab und stöbert so lange, bis sie ein brauchbares Stück Information findet. Bisher endete ihre Suche immer in einer Sackgasse. Doch ihr Optimismus hilft ihr auch darüber hinweg. »Irgendwann werden schon zwei Puzzleteile zusammenpassen.«
PARTITUREN Alles, was sie über den Raub von Instrumenten unter der Nazi-Besatzung Frankreichs weiß, hat sie sich selbst angeeignet. »Wir sind alle Autodidakten«, sagt Bernheim über ihren Verein. Denn auch, wenn Raubkunst inzwischen viel Aufmerksamkeit bekommt, kümmert sich bisher kaum jemand um die von den Nazis geraubten Instrumente oder Partituren. »Wir sind der einzige Verein in Europa, der das macht.«
Die Tochter des französischen Kunstsammlers André Bernheim und der Bildhauerin Claude de Soria begeisterte sich schon als Kind für Musik. Nach dem Abitur und zehn Jahren Klavierunterricht begann sie ein Studium der Musikwissenschaften, das sie allerdings nach einem Jahr wieder abbrach. Danach arbeitete sie als Konzertagentin sowie in anderen Jobs – »immer im Dunstkreis der Musik«.
Ihr Interesse für geraubte Instrumente wurde durch ein Buch über Raubkunst geweckt, das sie zu einer Pariser Galeristin führte. Beim Stöbern in deren Archiv stellte Bernheim die Frage, wer denn die Spur der Instrumente verfolge. »Niemand«, lautete die Antwort. Für die Musikliebhaberin tat sich damit eine Welt auf, die sie bis heute mit Eifer erkundet. Die Tatsache, dass sie selbst Jüdin ist, sei dabei nicht wichtig, sagt sie. Es sei vielmehr ihre Nähe zu Kunst und Musik, die sie motiviere. Und auch die Suche nach Identität: Die Instrumente sind oft die letzten Überreste eines durch die Deportation ins Konzentrationslager zerstörten Familienlebens.
Allein in Paris wurden aus 40.000 Wohnungen jüdischer Familien 8000 Klaviere abtransportiert. In jeder fünften Wohnung spielte also jemand Klavier. »Kultur war etwas Wichtiges«, erläutert die Historikerin Annette Wieviorka in einer Radiosendung zum Thema Raub-Instrumente. »Sogar in armen Familien gab es Musikunterricht.«
Besatzung Nach der Besatzung Frankreichs 1940 begannen die Nazis mithilfe der französischen Polizei damit, Jüdinnen und Juden zu erfassen. Rund 76.000 von ihnen wurden in die Konzentrationslager deportiert – nur etwa 3000 kehrten zurück. Die Wohnungen der Deportierten und derjenigen, die sich versteckten, wurden systematisch leergeräumt. Nicht nur, um sich die Wertgegenstände anzueignen, sondern auch, um die jüdische Kultur auszulöschen.
Der die Plünderungen organisierende »Sonderstab Musik« spürte in Frankreich besonders akribisch seltene Partituren und Instrumente prominenter jüdischer Musiker wie des Komponisten Darius Milhaud oder des Pianisten Artur Rubinstein auf. Aus dem Haus der Cembalistin Wanda Landowska in Saint-Leu bei Paris wurde die wertvolle Instrumentensammlung in 54 Spezialkisten weggeschafft, darunter ein Klavier, auf dem Frédéric Chopin einige Préludes komponiert haben soll. Im Lexikon der Juden in der Musik hatte der Leiter des Sonderstabs, Herbert Gerigk, 1940 alle jüdischen Musikerinnen und Musiker samt Wohnort aufgeschrieben, sodass die Plünderer die Liste nur abarbeiten mussten.
Die Tochter des Kunstsammlers André Bernheim begeisterte sich schon als Kind für Musik.
Die Instrumente kamen an mehrere Sammelstellen, wo sie auf ihren Abtransport nach Deutschland warteten. Eine historische Schwarz-Weiß-Aufnahme zeigt mehrere Flügel ohne Beine hochkant nebeneinander gestapelt im Keller des Pariser Museums Palais de Tokyo – wie Jagdtrophäen nebeneinander abgelegt.
kriegsende Die Instrumente, die mit der Bahn nach Deutschland gingen, wurden an ausgebombte Familien, hochrangige Nazis oder Orchester verteilt. Zu Kriegsende warteten in Paris noch rund 2000 Klaviere darauf, abtransportiert zu werden. 1375 wurden ihren Besitzern zurückgegeben. Auch der frühere Premierminister Léon Blum hatte Glück: Er fand nach seiner Rückkehr aus dem KZ Buchenwald seinen Bechstein-Flügel wieder. Doch Hunderte Klaviere blieben ohne Besitzer und wurden in den 60er-Jahren an Schulen verteilt oder verkauft.
Seit sechs Jahren fahndet Bernheim nun ehrenamtlich nach den überall verstreuten Instrumenten. Ihr Engagement versteht sie als Erinnerungsarbeit. Denn wer den Weg eines Klaviers oder einer Geige nachzeichne, ehre damit auch denjenigen, der das Instrument gespielt habe.