Sie heißt Citrus medica, auf Deutsch Zitronatzitrone, und wird seit fast 2000 Jahren in Italiens südlichster Region Kalabrien angebaut. Im Hebräischen ist die Frucht als Etrog bekannt. Um koscher zu sein, darf sie keine Schnitte aufweisen, muss eine gelbgrüne dicke, glatte, falten- und sprenkellose Schale und am Ende einen Blütenansatz haben. Außerdem soll die Frucht nicht rund, aber auch nicht zu elliptisch sein und so groß, dass sie idealerweise die Hand ausfüllt.
Dies alles erfüllt nur die sogenannte Glattdiamant-Sorte. Sie heißt so, weil sie in der Sonne glänzt. Der Herkunftsbaum muss natürlich auch koscher sein, das heißt gesund, mindestens im vierten Erntejahr und – ganz wichtig – nicht mit einer herkömmlichen Zitruspflanze gekreuzt.
arba minim Normale Zitronatzitronen werden für Kompotte und Marmeladen, Kosmetikprodukte und Medikamente genutzt. In den jüdischen Gemeinden aber ist die Frucht nicht für den Verzehr gedacht, sondern unverzichtbar als eine der Arba Minim, der sogenannten vier Arten für Sukkot.
Vier Länder und Regionen sind die Hauptexporteure von Etrogim: Israel, Marokko, Korfu und Kalabrien. Letzteres ist die unter orthodoxen Juden weltweit beliebteste Quelle. Denn die Tora erzählt, dass Isaak seinem Sohn Esau versprach, er werde »den Reichtum der Erde« erben. Damit soll die fruchtbare Erde im Süden Italiens gemeint sein. Hinzu kommt, dass nach einer Legende Noahs Urenkel Aschkenas die an der Zehenspitze des italienischen Stiefels gelegene Stadt Reggio gegründet haben soll.
Nach einer Studie von Dafna Langgut, Professorin für archäologische Botanik an der Universität Tel Aviv, erschienen in der Zeitschrift der American Society for Horticultural Science, stammt die wahrscheinlich als Luxusprodukt geltende Zitronatzitrone aus Südostasien und verbreitete sich über Persien und die Levante bis in den Mittelmeerraum. Im fünften Jahrhundert v.d.Z. begegnet man ihr in einem königlichen persischen Garten in Jerusalem. Zwischen dem zweiten und dritten Jahrhundert n.d.Z. gelangt sie schließlich nach Italien – als erste Zitrusfrucht überhaupt.
mittelalter Es ist nicht auszuschließen, dass es Juden waren, die die Frucht damals nach Kalabrien brachten. Historische Zeugnisse jüdischen Lebens in Kalabrien sind allerdings erst ab dem Mittelalter zu finden.
Im Italienischen nennt man die Zitronatzitrone Cedro. Ganze Landstriche tragen die Frucht in ihrem Namen. So sind die Region Santa Maria del Cedro und Marcellina in der Provinz Cosenza, aber auch die kalabrische Küste zwischen Tortora und Cetraro als Riviera dei Cedri bekannt. Dort haben sich vor 17 Jahren etliche Produzenten zu einem Konsortium zusammengeschlossen, dem »Consorzio del Cedro di Calabria«. Der Verband widmet sich ausdrücklich auch dem Etrog.
Vor einigen Monaten besuchte Israels Botschafter im Vatikan, David Oren, die Plantagen in Kalabrien. Die Qualität des dortigen Anbaus, der reine Zitronatzitronen hervorbringt, wird von jüdischen Organisationen seit Langem geschätzt. Jedes Jahr zwischen Juli und September reisen mehrere Rabbiner aus aller Welt nach Kalabrien, um die Ernte zu überprüfen.
Die Obstbauern in Kalabrien freuen sich, dass sie trotz der Wirtschaftssanktionen Etrogim nach Russland exportieren dürfen. Ja, die Europäische Union hat tatsächlich eine Ausnahme erlaubt – für religiöse Zwecke. Die Gemeinden zwischen St. Petersburg, Moskau und dem fernen Sibirien sind dankbar dafür.
Für den Verkauf wird jede Frucht einzeln eingewickelt und wie ein Juwel in eine Schale aus Schaumgummi gelegt. Trotz der guten Beziehungen zwischen den Produzenten und den jüdischen Gemeinden hat es immer wieder Versuche der organisierten Kriminalität gegeben, die Bauern zu verschiedenen Tricksereien zu bewegen, zum Beispiel zur Veredelung von Pflanzen oder gar dazu, Früchte von gekreuzten Bäumen an koschere Bäume anzukleben. Der Mailänder Rabbiner Moshe Lazar (83) ist geübt darin, derartige Betrügereien zu erkennen. Seit rund 50 Jahren überwacht er die Einhaltung der Kaschrut beim Anbau der Etrogim in Kalabrien.
Sukkot Es ist die Pflicht eines jeden Juden, während Sukkot einen Etrog zu besitzen. Mehrere Personen können sich auch eine Frucht teilen, wenn sie sie einander schenken. Diese etablierte Praxis wird dieses Jahr umso wichtiger, denn eine lange Kälteperiode hat fast 70 Prozent der Früchte zerstört und weitere 20 Prozent ernsthaft beschädigt.
Was das für Auswirkungen auf die Preise hat, darin besteht Uneinigkeit: Der Preis für Etrogim habe sich verdreifacht, erklärt Rav Lazar. Der Venezianer Rabbiner Schlomo Bahbout hingegen meint, es gebe keinen dramatischen Anstieg, und Angelo Adduci, Chef des Consorzio del Cedro di Calabria, sieht es genauso.
Der übliche Preis liege zwischen drei und zwölf Euro pro Stück. Allerdings werden Etrogim aus Großbritannien und Frankreich fast immer in einem kompletten Set mit den anderen drei zum Laubhüttenfest notwendigen Symbolen für 30 bis 45 Euro plus Liefergebühren angeboten. So viel musste der Mailänder Maurizio Pieri bereits im vergangenen Jahr zahlen. Auch lasse die hohe Nachfrage nach den Früchten – Rabbi Lazar schätzt, dass es in der Regel rund 50.000 Stück pro Jahr sind – die Preise regelmäßig kurz vor Sukkot steigen und danach wieder sinken, schreibt die Jewish Telegraphic Agency.
vermarktung Angelo Adduci, der Chef des Consorzio, weist darauf hin, dass sich starke Frostperioden ungefähr alle 40 Jahre wiederholen und in der Riviera dei Cedri in letzter Zeit bereits rund 4000 neue Bäume gepflanzt worden sind. Wichtiger für ihn ist es jedoch, den Klimawandel unter Kontrolle zu bekommen. Adduci ist sich sicher, dass Italiens Politiker verstanden haben, wie bedeutend die Zitronatzitrone und ihre Vermarktung für die Region geworden sind. Die jüdischen Käufe hätten genauso zugenommen wie die der Industrie. Insgesamt macht das Herstellerkonsortium inzwischen einen Umsatz von etwa 1,5 Millionen Euro pro Jahr.
Die Zitronatzitrone ist ein außergewöhnliches biblisches Vermächtnis der Region: Juden kaufen heute die Früchte, und Juden waren es wohl, die die ersten Bäume vor rund 2000 Jahren in die Gegend brachten.