Wenn Keren Simons anfängt, über ihre Arbeit zu reden, wird ihr fundiertes Wissen offensichtlich. Die 31-Jährige ist Projektmanagerin eines der größten jüdischen Hilfsprogramme für Flüchtlinge in der Türkei und in Griechenland. Modisch in Schwarz-Weiß gekleidet und mit einem türkisfarbenen Amulett um den Hals sitzt sie vor einer Weltkarte im ersten Stock der Hauptzentrale des World Jewish Relief (WJR). Die liegt unscheinbar in einer Londoner Seitenstraße voller Reihenhäuser.
Gegründet wurde die britisch-jüdische Hilfsorganisation 1933 und begann sofort, allerdings unter ihrem damaligen Namen Britischer Zentralfond für Deutsche Juden (CBF), ihren Einsatz mit der Rettung deutscher Juden.
Nach dem Holocaust verschob sich der Fokus auf Juden in der Sowjetunion. Bis heute werden Hilfsteams zu verarmten jüdischen Gemeinden in Osteuropa gesendet. Andere Aktionen galten beispielsweise der Rettung von Juden während der Suezkrise, der Aufnahme und Verpflegung
äthiopischer Juden 1984 oder der Rettung bosnischer Juden in den 90er-Jahren.
Seit ihrer symbolischen Namensänderung 1995 stellt sich die Organisation, die sich nun World Jewish Relief (WJR) nennt, globalen Anforderungen, die nicht mehr unbedingt einen jüdischen Kontext haben müssen. So waren WJR-Teams 2004 und 2011 nach Tsunami-Katastrophen in Sri Lanka und auf den Philippinen oder 2010 nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti im Einsatz. Zudem unterhält der WJR Aufbauprojekte in Ruanda und kümmert sich seit 2014 auch um Juden in der Ukraine.
Finanzierung Der WJR wird von nahezu allen großen jüdischen Gemeinden im Vereinigten Königreich unterstützt und versteht sich als die britisch-jüdische Kraft in Katastrophen- und Konfliktsituationen. Aufgrund ihrer globalen Aufgaben erhält die Organisation mitunter ebenfalls staatliche Zuschüsse.
Seit vergangenem Dezember ist der WJR auch in Griechenland und der Türkei tätig. Die Aktion geht auf einen Spendenaufruf im vergangenen Jahr in den jüdischen Gemeinden Großbritanniens zurück. Dadurch kamen innerhalb kürzester Zeit mehr als eine Million Euro und viele Sachspenden zusammen.
Was ist jüdisch an einem Einsatz für syrische und muslimische Flüchtlinge aus anderen Ländern? Keren Simons muss nicht lange überlegen, bevor sie mit klarer Stimme antwortet: »Die jüdische Perspektive, wie man Menschen hilft.« Sie erklärt, sie sei der Meinung, »dass alles in der Welt miteinander verbunden ist«. Damit fühlt sie sich dazu berufen, überall zu helfen, weil es letztendlich Folgen für die Menschen an anderen Orten hat. Diese Ansicht entnehme sie ihrer jüdischen Erziehung. Ihre Eltern seien sehr religiös, sagt Simons.
Was den Einsätzen außerdem einen jüdischen Charakter verleihe, sei die Tatsache, dass der WJR die Hilfsaktionen vor Ort unter anderem mithilfe jüdischer Gemeinden in der Türkei und in Griechenland koordiniert. »Sie stellen freiwillige Mitarbeiter oder sammeln Kleidung«, erzählt Simons. Dass sie und die Organisation jüdisch seien, würde weder verborgen, noch würde man es groß hervorheben. Es gelte die Hilfe an sich.
Werdegang Keren Simons ist trotz ihres jungen Alters kein Neuling auf dem Gebiet der Hilfe. Als Jugendliche unterstützte sie eine Gruppe, die sich um Opfer häuslicher Gewalt kümmerte. Und nach ihrem Studium der Entwicklungszusammenarbeit verschrieb sie sich zuerst Projekten für Beduinen in Israel und später für Menschen im Südsudan.
Innerhalb der ersten Monate ihres Einsatzes für WJR in Griechenland und der Türkei half sie Flüchtlingen auf Lesbos sowie an der türkisch-syrischen und der griechisch-mazedonischen Grenze. »Wir suchen dabei immer Teams vor Ort, damit die Hilfe nicht von unserer Präsenz abhängig wird«, berichtet Simons. »In der Türkei rekrutieren wir zum Teil sogar qualifizierte Flüchtlinge«, doch in Griechenland sei das aufgrund der Arbeitsgesetze nicht möglich.
Im Zentrum stehe derzeit die Arbeit mit Kindern. Viele hatten monate- oder gar jahrelang keinen Unterricht mehr. Die Eltern sind dankbar dafür, dass sie endlich wieder beschult werden. Das Wichtigste sei zudem die Ausgabe von Kleidung und Lebensmitteln, Schlafsäcken sowie Rollstühlen.
Der Großteil der Arbeit, die Simons leistet, besteht in der Bestandsaufnahme der Bedürfnisse vor Ort sowie im Organisieren und Koordinieren. »Häufig ändern sich Situationen sehr schnell«, erzählt sie, »dann muss ich die Pläne, die ich vielleicht gerade erst fertiggestellt habe, plötzlich vollkommen neu aufstellen.«
Flexibilität In Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze betreibt der WJR ein mobiles medizinisches Versorgungszentrum. Auch hier ist Flexibilität gefragt, weil die Flüchtlinge plötzlich in ganz andere Regionen wandern können. Aufgrund seiner Mobilität kann das Versorgungszentrum bei Bedarf mitziehen.
Auf der anderen Seite der Region, an der türkisch-syrischen Grenze, baut der WJR stattdessen ein permanentes Zentrum zur sozialen und psychologischen Versorgung vor allem von Frauen auf. Da hier viele Flüchtlinge in Lagern und Unterkünften über die Region verstreut leben, fehle es an zuverlässigen Stellen, an die sich Flüchtlinge wenden können.
Ist es so, wie man es im Fernsehen in den Nachrichten sieht? Simons antwortet direkt. »Die Medien können nicht alles zeigen. Die Wirklichkeit ist intensiver, schlimmer und größer in ihrem Ausmaß.«
Obwohl das Nothilfeprojekt mindestens sechs weitere Monate laufen wird, denkt der WJR schon jetzt über die Weiterfinanzierung nach. Nebenbei und unabhängig von der Arbeit in Griechenland und in der Türkei organisiert der WJR einen Service, um syrischen Flüchtlingen zu helfen, denen in Großbritannien Asyl gewährt wird. Bis 2020 will Großbritannien nur 20.000 Flüchtlinge aufnehmen – eine Zahl, die viele Briten und auch etliche jüdische Organisationen kritisieren.
Der World Jewish Relief ruft alle auf, die finanziell oder mit Expertenwissen helfen können, sich bei ihrer Zentrale zu melden.
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