Das neue Jahr beginnt weltweit mit einem Feuerwerk. In den Niederlanden stand ein Feuerwerk mit einem ganz besonderen Knall an: Denn mit dem neuen Jahr 2025 sollte das größte Kriegsarchiv des Landes geöffnet und über eine Datenbank mit einer Volltextsuche zugänglich sein.
Das Kriegsarchiv enthält die Namen derer, die im Verdacht standen, während des Zweiten Weltkriegs mit der deutschen Besatzungsmacht zusammengearbeitet zu haben und deswegen nach dem Krieg vor Gericht standen. Die Regierung hat die Offenlegung der Akten über die Datenbank aus Datenschutzgründen vorerst gestoppt. Das Nationalarchiv hat dagegen protestiert und auf den Ethikrat hingewiesen, der die Arbeit begleitet habe.
Die Datenbank mit dem Namen »Oorlog voor de Rechter« (Der Krieg vor Gericht) enthält die rund 485.000 Akten des Centraal Archief Bijzondere Rechtspleging (CABR). Das Digitalisierungsprojekt wird von vier Organisationen getragen und von dem Historiker Edwin Klijn geleitet. Wann die Datenbank online gehen kann, ist momentan nicht abzusehen. Die Webseite dazu bietet bereits allgemeinen Infos.
Das Trauma der Besatzungszeit
Die Jahre der deutschen Besatzung (1940-1945) sind bis heute ein Trauma in den Niederlanden. Hatte sich nach dem Krieg die nationale Überzeugung etabliert, die Niederländer hätten im Widerstand gegen die Besatzer gekämpft und fest an der Seite ihrer jüdischen Mitbürger gestanden, so ist diese Meistererzählung seit längerem nicht mehr tragbar.
Die Öffnung des Kriegsarchivs hätte den Menschen niederschwellig am heimischen PC Auskunft darüber gegeben, ob ihre Großeltern oder Eltern wirklich im Widerstand waren - oder ob sie nicht vielmehr, in welcher Weise auch immer, mit den deutschen Besatzern zusammengearbeitet haben. Zwei Drittel der Angeklagten wurden nach Angaben von Projektleiter Klijn nicht verurteilt. Er spricht daher von »einem Archiv der Verdächtigen«.
Der Centraal Joods Overleg zeigte sich in einer Erklärung »zutiefst enttäuscht« über die Entscheidung des Kulturministers.
Die CABR-Akten enthalten nach Angaben des niederländischen Nationalarchivs auch zahlreiche Informationen über jüdische Opfer und Widerstandskämpfer. »Das CABR kann daher nicht nur als ein Verdächtigenarchiv, sondern auch als ein Opferarchiv betrachtet werden«, heißt es auf der Internetseite des Nationalarchivs.
Auskunft über die jüdischen Opfer
Das Nationalarchiv in Den Haag verwahrt die Akten, die bislang nur auf schriftlichen Antrag und mit einer nachvollziehbaren Begründung einsehbar waren. Jetzt, 80 Jahre nach Kriegsende, werden sie öffentlich und können daher digitalisiert zur Verfügung gestellt werden - wenn die Regierung ihren Einspruch aufhebt.
Der Centraal Joods Overleg, vergleichbar mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, zeigte sich in einer Erklärung »zutiefst enttäuscht« über die Entscheidung von Kulturminister Eppo Bruins, das Kriegsarchiv erst später online zu stellen. »Diese Entscheidung verhindert den direkten Zugang zu wichtigen Informationen für jüdische Überlebende und Angehörige, die die Geschichte ihrer Familien rekonstruieren wollen«, so die Organisation. Die Verzögerung bedeute, dass viele Familien möglicherweise nie die Chance haben werden, das Schicksal ihrer ermordeten Verwandten zu ergründen.
»Die Zeit läuft uns davon, es sind jetzt 80 Jahre vergangen«, erklärte der Ratsvorsitzende Chanan Hertzberger in der Stellungnahme. »Wir fordern den Minister auf, die Online-Zugänglichkeit des Kriegsarchivs so schnell wie möglich zu realisieren. Es ist wichtig, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, um Hass und Ignoranz zu bekämpfen.«
Hohe jüdische Opferzahlen in den Niederlanden
Edward van Voolen, als Rabbiner lange in den Niederlanden und Deutschland tätig, stammt aus Amsterdam. »Viele meiner Familienmitglieder waren im Versteck, wurden verraten und dann ermordet«, sagt er. »Ich möchte mehr wissen über das Schicksal meiner Familie, und ich weiß, dass in der Jüdischen Gemeinschaft das Interesse sehr groß ist.« Er hält die Entscheidung, die Datenbank jetzt nicht online zu stellen, für einen Skandal.
Insgesamt wurden rund 103.000 Jüdinnen und Juden aus den Niederlanden ermordet. Das entspricht rund drei Viertel der damaligen jüdischen Bevölkerung. Nur osteuropäische Länder wie Polen oder Gebiete wie das Baltikum wiesen noch höhere Vernichtungszahlen auf. Heute leben nach Angaben der Online-Plattform Statista knapp 30.000 Juden in den Niederlanden.
Stigmatisierungen und Anfeindungen
Vonseiten der Stiftung Werkgroep Herkenning gibt es eine grundsätzliche Zustimmung zur Öffnung des Kriegsarchivs. Sie ist eine nach eigenen Angaben 1981 gegründete Freiwilligenorganisation, die Kinder, Enkelkinder und Angehörige von Personen unterstützt, die in den Jahren von 1940 bis 1945 auf der Seite der Besatzer standen oder Kinder deutscher Soldaten waren.
Mit der Datenbank wird das Thema Besatzungszeit auf eine neue Weise in die Gesellschaft getragen.
Michael Schuling, aktueller Vorstandsvorsitzender der Stiftung, betont, »dass wir dafür sind, dieses Archiv öffentlich und digital zugänglich zu machen, vorausgesetzt, dies geschieht mit äußerster Sorgfalt«. Er äußert allerdings seine Sorge, dass die Informationen dann ohne den nötigen Kontext betrachtet werden könnten.
Wenn bekannt war, dass ein Familienmitglied mit den deutschen Besatzern zusammengearbeitet hatte, dann führte das in der Nachkriegsgesellschaft zur Ausgrenzung. Diejenigen galten als »foute Nederlanders«, »falsche« Niederländer. Mittlerweile seien die Anfeindungen aber seltener geworden, sagt Jeroen Saris, bis Oktober Vorstandsvorsitzender der Stiftung Werkgroep Herkenning.
»Aus der Vergangenheit lernen«
Mit der Datenbank wird das Thema Besatzungszeit auf eine neue Weise in die Gesellschaft getragen. Projektleiter Klijn hofft auf eine breitere Diskussion, was genau Kollaboration bedeutete. »Kollaboration ist jahrelang ein Tabuthema gewesen. Die Diskussion im Anschluss an die Öffnung des Archivs wird hoffentlich auch zu einer öffentlichen Debatte über dieses heikle Thema führen.« Auch Schuling stellt fest: »Generell sehen wir die Offenlegung als eine Gelegenheit, aus der Vergangenheit zu lernen und ein besseres Verständnis für diese komplexe Periode der niederländischen Geschichte zu gewinnen.«
Der Schatten der Besatzungszeit ist lang. Im Hinblick auf die Öffnung des Archivs hat das Nationale Psychotraumazentrum eine Umfrage beauftragt, aus der hervorging, dass jeder fünfte Niederländer es vorziehen würde, keinen Nachfahren eines Kollaborateurs in einem öffentlichen Amt zu haben, zum Beispiel als Bürgermeister oder Abgeordneter.