Um eine reich gedeckte Tafel sitzen ein Jerusalemer Rabbiner und ein paar muslimische Marokkaner entspannt beim Essen und prosten sich zu. »L’Chaim«, auf das Leben. Gläser klirren. Es gibt marokkanische Salate, Hühnerfleisch und viele andere Leckereien des Landes. Didier Tobaly hat Freunde zum Schabbatessen eingeladen. Muslime, Juden, keiner fragt nach dem rechten Glauben. Tobaly bewirtet seine Gäste im traditionellen marokkanischen Djellaba, einer weiten Tunika.
Einige seiner Gäste trinken Wasser oder Limonade, wie es ihnen ihr Gesetz gebietet. Am Kopfende spült ein Rabbiner aus Jerusalem mit Rauschebart fast jeden Bissen mit einem kräftigen Schluck Whisky runter. Er stammt aus Marokko und kommt immer wieder. Seine Wurzeln, sagt er, könne man nicht verlieren.
Tobaly, nach eigenem Bekunden einziger jüdischer Anwalt in der marokkanischen Millionenstadt Fez, beschwört das gute Zusammenleben der Juden und Muslime im Land. »Schauen Sie, wir teilen und segnen gemeinsam das Brot und den Wein«, sagt er immer wieder. »Wir sind Freunde.« Am örtlichen Landgericht empfängt ihn der Gerichtsdiener ebenso wie ein Juristenkollege mit Wangenkuss. Durch die offenen Bürotüren grüßen Staatsanwalt und Richter freundlich.
Kanzlei Alle wüssten, dass er Jude sei, versichert Tobaly und zeigt auf die Mesusot an jeder Tür in seiner Kanzlei. Seine beiden Büroangestellten sind Musliminnen: Zwei junge Frauen im traditionellen marokkanischen Kaftan, das Haar unter hellblauen, akkurat sitzenden Kopftüchern verborgen, nicken freundlich lächelnd.
Marokko beherbergte einst mit mehr als einer Viertel Million Menschen die größte jüdische Gemeinde Nordafrikas. Über Generationen verband Juden und Muslime in Marokko ein gemeinsames Trauma: die Vertreibung von der iberischen Halbinsel nach der spanisch-katholischen Reconquista Ende des 15. Jahrhunderts. Zu Tausenden siedelten sich die Flüchtlinge beider Religionen vor allem in den großen Städten Marokkos an. Juden lebten respektiert in eigenen Vierteln, den Mellahs.
Vichy Noch in den 40er-Jahren weigerte sich König Mohammed V., Juden an das von den Nazis kontrollierte Vichy-Regime auszuliefern. »In Marokko gibt es nur Marokkaner«, soll er den Franzosen entgegnet haben. Wenig später war Marokko das erste arabische Land, das Israel anerkannt hat. Die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung ist aber inzwischen nach Israel, Nordamerika oder Europa ausgewandert und kommt nur noch zum Verwandtenbesuch zurück.
In Erbrechts- und Personenstandsfragen ist die jüdische Gemeinde Marokkos eigenständig. In der größten Stadt des Landes, in Casablanca, urteilt ein Rabbiner im Dienste des Königs nach jüdischem Recht über Ehe- und Erbangelegenheiten jüdischer Familien. Marokkos Juden stehen unter dem Schutz des Königs und der Verfassung. Das sei, so Tobaly, »weltweit einmalig«. Der Islam ist Staatsreligion, der König allerdings Oberhaupt und Beschützer aller Gläubigen, Auch der Christen und der Juden.
Tobalys Kanzlei liegt in der Neustadt von Fez, einem von den Franzosen Anfang des 20. Jahrhunderts gebauten Viertel mit schnurgeraden, breiten Boulevards. In seinem lichtdurchfluteten Büro stapeln sich auf dem Schreibtisch die Akten muslimischer Mandanten. Juden gibt es kaum noch in der Stadt, in der rund eine Million Menschen leben. Etwa 100 seien es, schätzt Tobaly. In ganz Marokko wird deren Zahl auf etwa 5000 geschätzt, aber so genau weiß das niemand. Die wenigen Juden, die im Land geblieben sind, seien sozial besonders engagiert und gesetzestreu.
Ein Bild, das der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Fez, der Gynäkologe Armand Guigui, bestätigt. Schon Maimonides, der fünf Jahre lang in Fez lebte und lehrte, habe ausführlich über das harmonische Zusammenleben von Juden und Muslimen in Marokko geschrieben. Auch unter der derzeitigen islamischen Regierung gebe es damit keine Probleme.
»Der König, Gott preise ihn, hat sogar seinen Premierminister im Februar zur Wiederöffnung der restaurierten Synagoge nach Fez geschickt«, erzählt Guigui. Dort habe der Premierminister von der islamischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung im Auftrag des Königs die Bedeutung des Judentums für die marokkanischen Traditionen bekräftigt. Zur Wiedereröffnung der restaurierten Synagoge, einer von noch vier in Fez, kam auch Bundestagspräsident Norbert Lammert. Deutschland hatte die Wiederherstellung mit einer großzügigen Spende unterstützt.
Praxis Guigui sitzt an einem großen Schreibtisch in seiner Praxis. An diesem Freitagmorgen ist wenig los. An einem den Muslimen heiligen Wochentag geht kaum jemand zum Arzt. Dennoch sitzt eine traditionell in Kaftan und Kopftuch gekleidete muslimische Patientin im Wartezimmer.
Alle liebten Guigui, sagt sie. Er sei ein so guter Mensch und ein exzellenter Arzt. Wochenlang habe sie auf einen Termin bei ihm gewartet. Doch der wirkt ungehalten. Er scheint es leid zu sein, Ausländern immer wieder versichern zu müssen, wie gut die Juden in Marokko lebten. Sorgen um die Zukunft mache er sich wirklich nicht. Die Marokkaner seien eher passiv, doziert Guigui. Politik sei für die meisten Menschen kein großes Thema und der »arabische Frühling« an Marokko fast spurlos vorübergegangen.
Den Aufbruch in Demokratie und Moderne hat in Marokko der König selbst eingeleitet. Mit einer neuen Verfassung, die er dem Volk 2011 zur Abstimmung vorlegte, stellte sich Mohammed VI. selbst an die Spitze der Reformbemühungen. Mit Erfolg. Unzufrieden sind die Leute, wenn überhaupt, mit der Regierung, aber nicht mit dem König.
In der alten Königsstadt Fez, die selbst in Marokko als besonders konservativ und behäbig gilt, geht alles seinen gewohnten Gang. Jenseits der Altstadt, zu Füßen des Königspalastes, liegt das im 15. Jahrhundert erbaute jüdische Viertel, die Mellah. Anders als im noch älteren islamischen Teil der Medina tragen viele Fassaden hier reich verzierte hölzerne Fenster und Erker.
Nach muslimischer Tradition sollen Häuser nach außen möglichst schlicht erscheinen. Zum Schutz der Frauen vor fremden Männerblicken und wohl auch aus Sicherheitsgründen haben die Häuser keine Fenster zur Straße. Für Juden galten diese Bauvorschriften nicht. Ihre ehemaligen Häuser erkennt man an einer kleinen Aussparung im hölzernen Türrahmen.
Wohnen »Schauen Sie, hier waren die Mesusot, und hier auf den Türen sehen Sie die Hand der Fatima, die die muslimischen Häuser beschützt.« Seit 30 Jahren bewacht der Mann mit der blauen Baseballkappe den jüdischen Friedhof von Fez. In einer wilden Mischung aus Französisch, Englisch und ein paar hebräischen Brocken, die er im Laufe der Jahre aufgeschnappt hat, erzählt er von der Geschichte der jüdischen Gemeinde in Fez, und für ein Trinkgeld führt er Besucher auch durch die Mellah und wieder zurück zum Friedhof.
Am Rande der Mellah breitet sich den grünen Hügel hinunter unter einer riesigen Palme und Orangenbäumen ein Meer aus weißen Steinen aus: der jüdische Friedhof mit 12.000 Gräbern. 600 davon tragen keine Namen. Sie beherbergen die anonymen jüdischen Opfer der Pestepidemie von 1932.
Gerne zeigt der Friedhofswächter auch das Grab einer jungen Frau, die 1834 ihre Standhaftigkeit mit ihrem Leben bezahlen musste. Sie hatte sich in einen Prinzen verliebt. Die beiden wollten heiraten. Doch die 17-jährige Jüdin weigerte sich, zum Islam zu konvertieren. Deshalb habe sie ihr Bräutigam getötet, erzählt er.
Synagoge Versteckt im hintersten Winkel des Friedhofsgeländes steht eine kleine, leuchtend weiß verputzte alte Synagoge mit hellblauen Fensterrahmen. Darin sammelt Edmond Gabaimimon seit 25 Jahren die Spuren des einst reichen jüdischen Lebens von Fez: Bücher, Lampen, Wandteppiche, ein leuchtend roter Traubaldachin, alte Fotos ausgewanderter Familien, Schalen, Vasen. Jeder Quadratzentimeter steckt voller Erinnerungen an eine untergegangene Welt.
Stolz zeigt der alte Mann mit dem strahlenden Lächeln seine Sammlung von Zeitungsartikeln aus Großbritannien, Frankreich und den USA, die über sein Museum berichten. Sogar im Pariser Louvre habe er sein Museum schon vorgestellt. Finanzieren würden es Besucher, die Spenden in den kleinen Schlitz der Sammelbüchse neben dem Eingang des Gebäudes werfen können. Er pflege sein kleines Museum, solange er dies noch könnte. Auswandern will Edmond Gabaimimon nicht, weder nach Israel noch irgendwo anders hin.