Die Situation auf der Halbinsel Krim spitzt sich zu. »Die Lage ist gefährlich, aber wir leben mit Hoffnung«, sagt Rabbiner Michael Kapustin von der Reformgemeinde »Ner Tamid« in Simferopol am Montagmittag im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Er hätte es gern gesehen, dass sich seine Frau mit den beiden kleinen Kindern in Sicherheit begibt und nach Israel fliegt. Doch sie hat sich dafür entschieden, bei ihm zu bleiben.
Einige Gemeindemitglieder seien heute nicht zur Arbeit gegangen, manche hätten ihre Kinder nicht zur Schule geschickt. »Ich habe den Leuten in meiner Gemeinde empfohlen, zu Hause zu bleiben und ihre Wohnungen nicht zu verlassen.« Es bestehe die Gefahr, dass Juden zur Zielscheibe werden, meint Rabbiner Kapustin. »Meinen Gemeindemitgliedern habe ich ans Herz gelegt, ihre Meinung nicht öffentlich zu äußern« – ganz gleich, welcher Ansicht sie sind: Manche betrachteten die Russen als Besatzer, andere meinen, sie kämen als Befreier, so Kapustin.
Anschlag Ende vergangener Woche war Kapustins Synagoge mit antisemitischen Graffiti und Sprüchen wie »Tod den Juden« besprüht worden. Wegen der brenzligen Lage in der Stadt versammelte sich der Rabbiner am Freitagabend nur mit einigen wenigen Gemeindemitgliedern in der Synagoge, um zum Beginn des Schabbats Kerzen anzuzünden und ein Gebet zu sagen.
Doch dann habe er die Gemeindemitglieder gebeten, nach Hause zu gehen, und den Schabbatgottesdienst am Samstagmorgen abgeblasen, um seine Gemeinde »aus der Gefahrenzone herauszuhalten«, wie er sagt. Sicherheitskräfte gebe es derzeit noch nicht vor der Synagoge. »Aber wir sind in Verhandlungen mit verschiedenen jüdischen Organisationen, die uns dabei unterstützen wollen«, so Rabbiner Kapustin.
Wie israelische Medien melden, hat das American Joint Distribution Committee (JDC) inzwischen Pläne erstellt, um den Juden auf der Krim im Notfall zu helfen. Man sei darauf vorbereitet, falls sich die Situation verschlechtere, und könne Nahrungsmittel sowie Medikamente an ältere und arme Gemeindemitglieder verteilen. Auch ließen sich rasch Telefonketten aufbauen und Gemeindeeinrichtungen schützen. Nach Angaben des Jüdischen Weltkongresses leben auf der Krim rund 15.000 Juden.
Aufruf Unterdessen haben der Oberrabbiner der Ukraine, Yaakov Bleich, und führende Vertreter anderer religiöser Gemeinden Russland in einem Brief aufgerufen, »seine Aggression gegen die Ukraine zu beenden« und die Truppen abzuziehen. Wie die Jewish Telegraphic Agency meldete, gehören zu den Unterzeichnern auch die Oberhäupter der ukrainisch-orthodoxen und der griechisch-katholischen Kirche im Land sowie der Baptistischen Union und andere Kirchenführer.
In dem Schreiben heißt es: »Liebe Brüder und Schwestern in Russland! Das ukrainische Volk hat nur freundliche, brüderliche Gefühle für das russische Volk. Glaubt nicht der Propaganda, die Feindschaft zwischen uns sät. Wir wollen und wir werden weiterhin freundliche und brüderliche Beziehungen mit Russland pflegen – aber nur als ein souveräner und unabhängiger Staat.«