Das Klavier steht in der Ecke, gleich neben dem Fenster mit dem Fernblick über Prag. Aber vor den Tasten, wo eigentlich der Platz für den Hocker der Pianistin wäre, ist ein alter Fernseher aufgebaut. »Ich spiele nicht mehr«, sagt Zuzana Ruzickova, »mein letztes Konzert habe ich 2006 gegeben.« Als sie merkte, dass ihre Triller nicht mehr so kristallig-perlend gelingen wie zu ihrer besten Zeit, als sie selbst mit stundenlangen Etüden nicht gegen das Alter ankam, da zog sie sich zurück: »Wenn es nicht mehr so wird, wie es gewesen ist, dann höre ich lieber auf. Schlechter will ich nicht werden.«
Zuzana Ruzickova sitzt in ihrem Wohnzimmer, ihren Gehstock hat sie in Griffweite an den kleinen Tisch gelehnt. An der Wand hängt die Goldene Schallplatte, die sichtbarste Trophäe ihrer Künstlerkarriere, in der sie Dutzende Auszeichnungen und Ehrenmitgliedschaften erhielt.
cd-edition 90 Jahre alt wurde Zuzana Ruzickova am 14. Januar. Ihr Gesicht wirkt jung, die Augen strahlen noch so wie auf dem Cover der CD-Edition, die gerade jetzt wieder aufgelegt worden ist: Bachs Gesamtwerk, auf Cembalo eingespielt, mit digital aufbereiteten Aufnahmen aus den 70er-Jahren, der Blütezeit ihrer Karriere.
Verschmitzt und selbstbewusst wirkt sie auf einem Foto von damals, in der Hand eine Zigarette. Ihre Einspielung von einst hat sich Zuzana Ruzickova erst jüngst wieder angehört: »Im Großen und Ganzen hat mich überrascht, dass ich nicht ganz unglücklich über die Aufnahmen bin«, sagt sie – ein Satz, wie er in seiner Eleganz und Bescheidenheit typisch ist für Ruzickova.
Sie spricht in einem Deutsch, das fast ausgestorben ist: Es ist die gleiche Sprachfärbung, wie sie Max Brod und Franz Kafka gehabt haben müssen, dieses böhmische Deutsch aus den Zeiten, als in Prag neben Tschechisch auch Deutsch gesprochen wurde.
Kindheit Zuzana Ruzickova ist in einer wohlhabenden jüdischen Familie aufgewachsen. Und weil sie schon als Kind unter Tuberkulose litt und viel Zeit in Sanatorien verbrachte, kam sie erst spät zur Musik: Die Ärzte rieten zur Schonung, aber als ihre Eltern während eines besonders schweren Krankheitsschubs verzweifelt versprachen, ihr nach der Genesung einen Wunsch zu erfüllen, kam sie endlich an ihr Klavier und die Klavierstunden.
»Es ist ja bei Kindern nicht gerade üblich, aber Bach war mir von Anfang an der liebste und nächste. Meine Klavierlehrerin schenkte mir einmal zu Weihnachten zwei Notensätze von Bach, einige der Präludien und Fugen, und sagte: ›Susi, das wirst du eines Tages spielen.‹ Mit Ehrfurcht hat sie es mir geschenkt, und mit Ehrfurcht habe ich es empfangen.« So begann eine Liebe, die Zuzana Ruzickova das Leben rettete, davon ist sie überzeugt.
Denn dass sie noch lebt, gleicht einem Wunder: Sie war in mehreren Konzentrationslagern – anderthalb Jahre in Theresienstadt, ein halbes Jahr in Auschwitz, dann zur Zwangsarbeit in Neuengamme, schließlich in Bergen-Belsen.
theresienstadt Nach Theresienstadt kam Zuzana Ruzickova 1942 mit ihrer Familie. Sie fand dort schnell heraus, dass es auf einem der Dachböden in den früheren Kasernen einen Flügel gab. Er war zwar sehr verstimmt und stand nur auf zwei Füßen, hinten war er auf alten Kisten abgestützt, aber immerhin bot er eine Möglichkeit zu spielen. Und während sie dort übte, kam einmal der Komponist Gideon Klein herein, lauschte eine Weile und bot ihr schließlich Klavierstunden an und Unterricht in der Harmonielehre. Ein paar Wochen sorgte dies für Zerstreuung, bis die Nazis einen härteren Lageralltag einführten.
Zumindest im Kopf ging Ruzickova in den Folgejahren immer wieder Bachs Stücke durch, sie bewegte ihre Finger auf einer imaginären Klaviatur und versenkte sich in sein Werk. »Bach war der Strohhalm, der mich über Wasser gehalten hat«, sagt sie heute. »In seinen Stücken klingt an: Was immer den Menschen hier auf Erden geschieht, es existiert doch eine Ordnung, ein Gesetz über alledem, was wir hier zu bestehen haben. Das hat Bach in seiner Musik lebendig gemacht.«
Später, auf ihren Konzertreisen um die Welt, spielte sie Bach so versunken, dass sie dabei vergaß, die Partitur umzublättern, sie spielte einfach weiter. Die Musik war ihr so nah, konstatiert sie im Rückblick, dass sie sie geradezu verinnerlichte: Das gesamte Bach-Werk spielte sie auswendig.
Zwangsarbeit Diese Karriere, die Zuzana Ruzickova machte, ist das zweite Wunder in ihrem Leben. »Als ich aus den Konzentrationslagern wieder zurückkam nach Pilsen«, erinnert sich Ruzickova, »ging ich als Erstes zu meiner Klavierlehrerin von früher. Sie sah meine Hände und fing an zu weinen.« Zerschunden von der Zwangsarbeit, von den Wintern ohne Handschuhe, von den Qualen der Lager.
»Mach lieber dein Abitur nach, geh an die Uni« – das war der Rat der Lehrerin. Aber ein Leben ohne Musik wollte sich Zuzana Ruzickova nicht vorstellen. Sie begann, wieder zu spielen. An der Musikschule setzte man die junge Frau mit Kindern zusammen in den ersten Jahrgang; sie, die bereits Bach spielte, aber jetzt mit unbeweglichen Fingern vor der Klaviatur saß.
»Jeden Tag übte ich zehn, zwölf Stunden, und alle drei Monate legte ich eine Prüfung ab, um einen Jahrgang zu überspringen«, erinnert sie sich. Mit unerschütterlichem Fleiß mühte sie sich vorwärts, jeder Schritt ein kleiner Kampf. Langsam wurden die Finger wieder gelenkig, die Musik begann zu strömen, und Zuzana Ruzickova war allmählich wieder das Wunderkind, das sie vor dem Holocaust gewesen war.
chopin Auf einer Leistungsschau ihrer Musikschule spielte sie vor einer Jury aus Hochschulprofessoren und einem Vertreter des Ministeriums. Sie spielte die Variations brillantes von Chopin. Nach dem Konzert kam die Jury geschlossen zu ihr und fragte, ob sie nicht die Aufnahmeprüfung für die Hochschule machen wolle. Dass sie kein Abitur hat – dafür fände sich eine Lösung, wenn sie denn wirklich bestehe, versicherte ihr der Mann vom Ministerium.
Und so kam Zuzana Ruzickova nach Prag auf die begehrte Musikhochschule. Sie war weit und breit die Jüngste, weil alle anderen erst das Konservatorium durchlaufen mussten. Neben dem Studium erteilte sie angehenden Komponisten Klavierunterricht.
Einer ihrer Schüler war Viktor Kalabis. »Bevor ich mich in ihn verliebte, liebte ich die Musik, die er komponierte«, sagt Zuzana Ruzickova. Die beiden heirateten – wohlweislich nach dem Seminar, damit daraus kein Skandal wurde – und entwickelten sich zum bewunderten Paar der tschechischen Musik: Sie als Cembalo-Star, er als weltweit gefragter Komponist zeitgenössischer Musik. Die Stücke, die Viktor Kalabis (1923–2006) für seine Frau schrieb, das erste Klavierkonzert etwa, ein Hochzeitsgeschenk, oder später eine ganze Reihe von Cembalo-Konzerten, wurden zu viel beachteten Erfolgen.
Karriere Dass Zuzana Ruzickova ihre internationale Karriere machen konnte, hing mit der Politik zusammen. 1956, als die Kommunisten die Zügel nicht allzu fest anzogen, konnte sie nach München reisen zum renommierten ARD-Musikwettbewerb. Ruzickova gewann souverän – und bekam ein Stipendium für Paris, wo sie erste Auftritte als Solistin absolvierte.
»Das war die Zeit, als ich mich endgültig entscheiden musste, ob ich mich mit Klavier oder Cembalo weiter profilieren sollte«, erinnert sie sich. Die Entscheidung für das Cembalo fiel ihr nicht schwer; wieder stand Johann Sebastian Bach dahinter. Als er seine Werke schrieb, waren sie gedacht für Cembalo oder Orgel.
»Schon als Jugendliche habe ich genau deshalb mit dem Cembalo geliebäugelt. Orgel war nichts für mich, die kalten Kirchen und meine Tuberkulose, das verbot sich von selbst«, sagt sie. Eigentlich war sie schon damals auf dem Weg nach Paris, die legendäre (ebenfalls jüdische) Cembalistin Wanda Landowska sollte ihr Unterricht geben, alles war vorbereitet – bis dann der Krieg und ihre Deportation dazwischenkamen.
»Es hat eine ganze Weile gedauert, bis meine Karriere international wurde – und vor allem meine Honorare«, sagt Zuzana Ruzickova im Rückblick. In den 60er-Jahren spielte sie schon viel draußen in der Welt jenseits des Eisernen Vorhangs. In den 70ern nach der Niederschlagung des Prager Frühlings war es schwieriger, aber die Anfragen aus den großen Konzerthäusern kamen zu Dutzenden.
devisen Zuzana Ruzickova wurde zur Devisenbringerin des kommunistischen Regimes: Sie war bei der staatlichen Agentur Pragokoncert angestellt, die ihre Auftritte vermittelte. »Nicht jede Einladung wurde mir weitergegeben, habe ich später erfahren. Aber solange das Honorar gut war und ich nicht mit jemandem spielen sollte, der für das Regime tabu war, durfte ich reisen«, sagt sie. Nach jedem letzten Konzert, das war die Bedingung, musste sie sofort wieder zurück.
War sie nie in Versuchung, bei einer ihrer Reisen im Westen zu bleiben und einfach nicht mehr zurückzukehren? Zuzana Ruzickova nickt schwer. 1968, bei der Niederschlagung des Prager Frühlings, habe sie mit ihrem Mann ernsthaft darüber nachgedacht. Sie entschieden sich zum Bleiben. Sein alter Vater lebte noch, auch ihre Mutter, die als Einzige der Familie mit ihr zusammen aus den KZs wieder zurückgekommen war. »Es war diese Befürchtung, das Land zu verlassen im Wissen, dass man vielleicht nie wieder zurückkommt – deshalb sind wir geblieben.«
honorare Der Preis für diese Entscheidung war hoch: Ihr Mann kam aus politischen Gründen kaum an Aufträge, ihre Mutter hatte eine lächerliche Pension (»als frühere Kapitalistin«, wie Ruzickova sarkastisch anfügt), und ihre eigenen Honorare blieben großteils bei der staatlichen Agentur. Also begann sie zu unterrichten, so wie schon in ihrer Studienzeit.
Sie hatte eine Dozentur, bis nach 1968 das Regime hart durchgriff – »da wurde das Cembalo politisch tabu, ein religiös-feudales Instrument. Und ich war nicht in der Partei. Man fragte mich: ›Wie können Sie mit den Studenten arbeiten, wenn da in den Stücken überall von Gott gesprochen wird?‹«
Eine Weile lehrte sie in Bratislava, und nach der politischen Wende bekam sie endlich ihre Professur in Prag. Einige bekannte zeitgenössische Komponisten waren Schüler von ihr – »ich wollte eine tschechische Cembalo-Schule aufbauen, das war mein Ehrgeiz«. Das, was sie sich hart erkämpfen musste, konnte sie weitergeben an die nächste Generation.
Bei Warner Music sind soeben Zuzana Ruzickovas Bach-Interpretationen auf 20 CDs erschienen: »Zuzana Ruzickova. Bach – The Complete Keyboard Works«. In Kürze kommt der Dokumentarfilm »Music is Life« über ihr Leben in die Kinos. Mehr über den Film und die vorführenden Kinos unter www.zuzanathemovie.com