Selbst unter Sprachbegabten sticht Ariel Koren heraus. Die 27-Jährige, die im Süden der Vereinigten Staaten aufwuchs, spricht neun Sprachen fließend: Englisch, Spanisch, Chinesisch, Arabisch, Hebräisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch sowie Ladino – und sie engagiert sich als Sprachaktivistin.
Koren ist Mitbegründerin von »Respond Crisis Translation«. Mit mehr als 2000 Übersetzern und Dolmetschern hilft die Organisation unentgeltlich Einzelpersonen und karitativen Einrichtungen in mehr als 100 Sprachen. Die Freiwilligen übersetzen Dokumente, Anträge und Akten oder unterstützen Migranten und Anwälte auf dem Weg durch das Einwanderungsverfahren.
Krise Anlass für die Gründung von Respond Crisis Translation war die Krise am westlichen Teil der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Koren lebte 2018 in Mexiko und arbeitete für Google Translate, als Tausende Migranten und Asylbewerber versuchten, die Grenze zu überqueren.
Die junge Linguistin nahm eine Auszeit von ihrer eigentlichen Arbeit und übersetzte für Einwanderer und Asylbewerber. Die Anzahl an Kindern, die an der Grenze von ihren Familien getrennt wurden und in Lagern landeten, sei unter der Trump-Regierung stark angestiegen, sagt Koren. Ihnen und ihren Familien wollte sie helfen.
Respond Crisis Translation ist in den weniger als zwei Jahren seines Bestehens schnell gewachsen. »Vor anderthalb Jahren hatten wir keinen Cent und nicht einmal ein Bankkonto«, sagt Koren. Am Anfang schickten Freunde Fotos von Asylanträgen per Smartphone. Mittlerweile gibt es eine fest angestellte Mitarbeiterin.
PROFESSIONALITÄT Die argentinische Germanistikprofessorin Laura Rodríguez O’Dwyer ist seit Ende 2019 dabei. Sie lernte Koren auf einer Konferenz kennen und war sofort vom Enthusiasmus der jungen Amerikanerin begeistert, sorgte sich allerdings um die mangelnde Professionalität der Freiwilligen. »Oftmals hängt das Leben der Klienten von der Arbeit der Übersetzer ab«, sagt die 39-Jährige, die in ihrer Jugend Austauschschülerin in Bochum war.
Koren gab Rodríguez O’Dwyer recht und verpflichtete sie, diesen Bereich der Organisation zu leiten. Seitdem ist O’Dwyer zuständig für Linguistics and Language Outcomes.
»In unserem Land leben 25 Millionen Menschen, die nicht gut Englisch sprechen«, sagt Koren. Mit ihrer Organisation setzt sich die Aktivistin dafür ein, dass alle Zugang zu Informationen in einer Sprache bekommen, die sie verstehen. Menschen dies vorzuenthalten, ist nach Korens Verständnis eine Form der Gewalt und Unterdrückung. »Zugang zu Sprachen ermöglicht es Menschen, am gesellschaftlichen Leben und dem politischen System eines Landes teilzunehmen«, betont Koren. Es gehe um ein würdevolles Leben für Migranten und Asylanten.
Es sei ein Skandal und ergebe keinen Sinn, dass Asylbewerber, die vor Gewalt und Ungerechtigkeit in ihren Herkunftsländern fliehen, die Beweisführung und die Antragsstellung auf Englisch bewerkstelligen müssten.
»Jüdisch zu sein, heißt für mich, an das Recht zu glauben, Grenzen zu überschreiten.«
Koren, deren Vorfahren russische und polnischen Juden waren, sieht in dieser Art der Ausgrenzung und Abschottung eine direkte Verbindung zur Zeit der Schoa. Damals suchten viele jüdische Flüchtlinge Zuflucht in Amerika.
Breckinridge Long, ein amerikanischer Diplomat, der im Auswärtigen Amt arbeitete, erdachte in den 30er-Jahren einen Visumsantrag, der rund zweieinhalb Meter lang war und nur in englischer Sprache eingereicht werden durfte. »Die Asylbewerber kämpften um ihr Leben«, entrüstet sich Koren. Historiker sind sich einig, dass mit einem vereinfachten Verfahren mehr Flüchtlinge aus Europa hätten gerettet werden können.
VERPFLICHTUNG Sie empfinde es als eine historische Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass heutigen Asylbewerbern und Flüchtlingen nicht Ähnliches widerfährt. Sprache werde damals wie heute als Waffe benutzt, um Migranten und Menschen, die der englischen Sprache nicht mächtig sind, das Leben schwer zu machen und sie zu schikanieren, so Koren.
Da die Klienten von Respond Crisis Translation oftmals Opfer von Gewalt wurden und unter schwierigen Bedingungen in Einwanderungslagern leben, besuchen alle Freiwilligen Schulungen, damit sie lernen, auch mit dem Thema Trauma umzugehen.
Koren wuchs in Jacksonville, Florida, in einer, wie sie sagt, »conservadoxen« Gemeinde auf, also an der Grenze zwischen konservativem und orthodoxem Judentum. Ihre Familie hält den Schabbat und die jüdischen Feiertage. Von Verwandten in den USA, Brasilien und Israel hörte sie Geschichten von Flucht und Assimilation. »Ich kann mein Jüdischsein nicht vom Kampf gegen Ungerechtigkeit und Nationalismus trennen«, sagt sie. »Jüdisch zu sein, heißt für mich, dass man an das Recht auf Freizügigkeit, also an das Recht, Grenzen zu überschreiten, glaubt.«
Außerdem sei das Sprachensterben ein durch und durch jüdisches Thema. »Es gibt so viele jüdische Sprachen, die viel Geschichte und Kultur enthalten. Wenn wir sie verkümmern lassen oder gar töten, verlieren wir einen großen Teil unserer Identität«, befürchtet die junge Frau.
Koren, die mittlerweile für die Bildungsabteilung von Google arbeitet und im Norden Kaliforniens lebt, beherrscht auch die amerikanische Gebärdensprache (ASL). Die lernte sie, damit sie besser mit ihrer mittleren Schwester kommunizieren kann, die an progressivem Gehörverlust leidet.
PANDEMIE Während der Pandemie erhielt Respond Crisis Translation vermehrt Anfragen von Einrichtungen und Personen, die primär nichts mit Einwanderung zu tun hatten. »Als die Schulen schlossen, wussten viele Lehrer nicht, wie sie mit den Eltern ihrer Schüler kommunizieren sollten, wenn diese kein Englisch sprachen«, erinnert sich Koren. Ähnlich ging es Krankenhäusern und Hotlines für häusliche Gewalt.
Der Großteil der Aufträge, die Respond Crisis Translation derzeit erhält, kommt aus Latein- und Nordamerika. Doch in Zukunft würde das Team auch gern mehr Flüchtlingen und Migranten in Europa helfen.