Wie kann Vergangenheit vergegenwärtigt werden? Wann verwandelt sich ritualisiertes Gedenken in leere Routine? Diese Fragen des richtigen Erinnerns sind weiter offen. Angesichts von Gedenktagen stellen sie sich ganz praktisch, so wie dieser Tage in Frankreich. Am 16. Juli jährt sich zum 70. Mal die berüchtigte Razzia des Vélodrome d’Hiver, die mit der Verhaftung von 13.000 Pariser Juden in Frankreich den Beginn der Deportation in die Todeslager markiert.
Der Name des Ereignisses verweist auf die mit Zuschauertribünen ausgestattete Halle für Radwettkämpfe, in der rund 7.000 vor allem staatenlose und ausländische Juden nach der Verhaftung fünf Tage lang unter katastrophalen Bedingungen zusammengepfercht wurden. Im Anschluss daran wurden sie in das Zwischenlager Drancy deportiert.
Razzia Gegenüber dem Eiffelturm, wo früher das Vél d’Hiv stand, befindet sich heute ein Gebäude des Innenministeriums. Dies ist nicht ohne bittere Ironie, denn die Razzia wurde nicht von den deutschen Besatzern geplant und ausgeführt, sondern von der französischen Polizei, die dem Vichy-Regime unterstand. Die französischen Beamten »übertrumpften« die deutschen Vorgaben sogar, indem sie die von den Besatzern zuerst nicht vorgesehenen Kinder mit auf die Verhaftungslisten setzten.
Das in Frankreich lange gehegte Selbstverständnis einer im Widerstand gegen die Nazis vereinten Nation wurde durch dieses Beispiel der offiziellen Beihilfe zum Mord schwer erschüttert und deshalb gern verdrängt. Nachdem François Mitterrand jede Mitverantwortung seines Landes für die Verbrechen noch kategorisch verneint hatte, rang sich 1995 mit Jacques Chirac zum ersten Mal ein französischer Präsident zu einer Entschuldigung im Namen des Staates durch.
Seit 2000 wird am Sonntag nach dem Jahrestag der Razzia landesweit der »Nationale Erinnerungstag für die Opfer der rassistischen und antisemitischen Verbrechen des französischen Staates« begangen. So auch in diesem Jahr. Am 16. Juli versammelt sich die Vereinigung der Söhne und Töchter der jüdischen Deportierten Frankreichs zu einer Gedenkveranstaltung am Ort des ehemaligen Radstadions.
Schicksal Außerdem werden in vielen Pariser Arrondissements Vorträge, Kundgebungen, Filmaufführungen und Ausstellungen zu Einzelschicksalen vorbereitet. Das Pariser Rathaus stellt unter dem Titel »Es waren Kinder« Dokumente, Fotos und Zeitzeugenberichte aus, um an das Schicksal der 4.000 im Zuge der Razzia von ihren Eltern getrennten Kinder zu erinnern, von denen nur wenige Hundert aus den Lagern zurückkehrten. Der bekannte Holocaustforscher und Nazijäger Serge Klarsfeld unterstreicht diesen Fokus der Erinnerung an die Geschehnisse vor 70 Jahren: »Die Kinder sind die Hauptfiguren dieser Geschichte.«
Die Gegenwart des Antisemitismus in Frankreich lässt Zweifel an der Qualität des Erinnerns aufkommen. Die derzeitige Gedenkpraxis scheint nur wenig gegen die gehäuften Attacken ausrichten zu können, die sich derzeit vor allem gegen jüdische Kinder und Jugendliche richten.
Der Anschlag von Toulouse im März wirkte dabei als eine Art Zünder: Anfang Juni wurden bei Lyon drei jüdische Jugendliche mit Messern und Eisenstangen derart zugerichtet, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Und nicht einmal die Schule Ozar Hatorah, vor der der Anschlag verübt wurde, kommt zur Ruhe: 1.350 antisemitische Anrufe gingen dort seit März ein, während einer ihrer Schüler, der das Attentat miterleben musste, vergangene Woche in einem Zug mit Schlägen und Tritten traktiert wurde.
Es zeichnet sich mehr und mehr ab, dass sich die potenziellen Täter gegen die viel beschworenen Lehren aus der Vergangenheit immun zeigen. Bei zahlreichen französischen Juden weckt diese Entwicklung grausige Erinnerungen.