Dwora Stein kämpft gegen die typischen Frauenfallen am Arbeitsplatz: geringere Bezahlung als Männer, Unvereinbarkeit von Familie und Beruf, Teilzeitarbeit, Altersarmut. Die zarte Frau mit dem grau melierten Haar und den markanten rotgeschminkten Lippen war selbst nie von diesen Problemen betroffen. Sie hat immer Vollzeit gearbeitet – und mehr als das.
Seit 2005 ist Stein Bundesgeschäftsführerin der größten österreichischen Gewerkschaft, einem Wortungetüm namens »Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck, Journalismus, Papier«, kurz GPA-djp. Die Gewerkschaft hat mehr als 278.000 Mitglieder, Tendenz leicht steigend. 44 Prozent der Beitragszahler sind weiblich. Die GPA-djp vereint so disparate Branchen wie Handel, Finanz- und Gesundheitsbereich, IT und Tourismus, Papierverarbeitung und Journalisten.
Gute Frauenpolitik ist für die Gewerkschafterin und leidenschaftliche Espressotrinkerin immer auch Arbeitszeitpolitik. Wenn es nach ihr geht, sollen Frauen im Job mehr arbeiten und Männer weniger. Angesprochen auf die Emanzipation der Frauen, die heute von vielen angezweifelt wird, sagt sie, die sich »durchaus« als Feministin versteht: »Aufgeben kann nicht infrage kommen, denn das Thema ist viel zu wichtig.«
kontrolle Dwora Steins Büro liegt in einem wenig mondänen Teil des dritten Wiener Gemeindebezirks, gleich neben einer U-Bahn-Station. Mit der U-Bahn fährt Stein auch jeden Tag zur Arbeit. Frühaufsteherin ist sie keine, und doch verbringt sie viel Zeit im Büro. Mitarbeiterkontakt ist ihr wichtig. Dwora Stein überlässt die Dinge nicht gern dem Zufall. Fotos vom Interviewtermin sieht sie sich persönlich an, bevor sie gedruckt werden, Zitate gibt sie frei, Treffen hält sie nie unvorbereitet. Ihre Karriere habe sie nicht geplant, sagt Stein. »Es war eine Entwicklung, die immer weiter nach oben geführt hat.« Und irgendwann »war auch mal klar, dass ich nicht der siebte Zwerg von links sein möchte«.
Einzig bei der Frage nach Vorbildern kommt die 62-Jährige ins Grübeln. Sie hat keine. 1983 wurde sie Sekretärin im Landessekretariat Steiermark der GPA, 1989 wechselte sie in die GPA-Zentrale nach Wien, 2000 wurde sie stellvertretende Bundesgeschäftsführerin. Dwora Stein scheint ihren Antrieb aus sich selbst zu nehmen. Es geht ihr um ein »besseres Leben«, um Selbstständigkeit und Unabhängigkeit – für Arbeitnehmer, Frauen und für sich selbst.
wahlfreiheit Die Wahlfreiheit ist ein Thema, das der Sozialdemokratin nicht nur im Erwerbsleben wichtig ist, sondern auch in ihrem persönlichen Leben ein Knackpunkt war. In ihrer eigenen Familie war sie mit Erwartungen konfrontiert, wie man leben soll. Steins Eltern – der Vater kam aus Transsilvanien, die Mutter stammt aus Wien und überlebte die NS-Zeit in Budapest – ließen sich nach dem Krieg in der österreichischen Hauptstadt nieder. Der Vater war religiös, die Mutter nicht. Beide aber führten ein zurückgezogenes Leben und erwarteten dies auch von ihren Kindern.
Steins Vater hat es niemals akzeptiert, dass sie in ihrer zweiten Ehe einen Mann geheiratet hat, der nicht jüdisch ist. Bis zu seinem Tod hat er ihn nicht kennengelernt.
Die Reibung an den Vorstellungen der Eltern war ihr Aufbruch zur eigenen Definition von Jüdischsein. »Jeder hat seinen Weg, jüdisch zu sein«, sagt Stein. »Ich bin nicht gläubig, fühle mich aber als Jüdin.« Bei ihren Schwestern, die in Israel leben, ist das anders: Die jüngste sei religiös, die andere halte bestimmte Feiertagsrituale ein.
Anders als für ihre Schwestern stand Auswandern für Stein nie auf der Tagesordnung. Als Teenager fuhr sie eines Sommers nach Israel und wartete auf ein Ereignis, eine Art Eingebung. Doch nichts passierte. »Es ist nicht mein Ort«, sagt sie heute. Dass sie die letzten Jahre nicht in Israel war, liege weder an der dortigen Politik noch am Sicherheitsrisiko im Nahen Osten, sondern schlicht an ihrer Abneigung gegenüber dem Fliegen.
Jüdisches Museum In Wien verfolgt Stein das jüdische Leben mit Interesse, unter anderem als Aufsichtsratschefin des Jüdischen Museums Wien, das ihr als Treffpunkt für Juden und Nichtjuden ein, wie sie sagt, »Herzensanliegen« ist.
Aus dem Jüdischen Museum erzählt sie eine Geschichte, die mit dem Erwachsenwerden in der Nachkriegszeit zu tun hat. Vor einigen Jahren, beim Besuch der Ausstellung »Leben! Juden in Wien nach 1945«, sah Stein plötzlich vor aller Augen ihre Kindheit und Jugend ausgestellt: Da hing ein Foto von der Barmizwa eines Cousins, fotografiert von Margit Dobronyi. Dobronyi war so etwas wie die inoffizielle Event-Fotografin der jüdischen Community ab den späten 50ern und legte über die Jahre ein Archiv von etwa 150.000 Bildern an.
Für Stein war die Veröffentlichung dieser privaten Dinge einerseits eine Grenzüberschreitung, andererseits Anlass zur Freude: ein unzweifelhaftes Zeugnis des jüdischen Lebens nach der Schoa. Der Schmerz der Überlebenden und ihr Versuch, wieder im Land der Täter und Mitläufer Fuß zu fassen, ist ein Thema, das Dwora Stein mit zunehmendem Alter immer mehr berührt.
lieblingsbücher Primo Levis Roman Wann, wenn nicht jetzt? gehört zu ihren Lieblingsbüchern. Er handelt von einer Gruppe jüdischer Partisanen aus Osteuropa, die sich nach dem Krieg bis nach Italien durchkämpfen. Erst südlich der Alpen können sie sich wirklich sicher fühlen.
Stein ist eine leidenschaftliche Leserin, sie geht gern ins Theater und in die Oper. Bald wird sie 63, doch ihre Pensionierung scheint ein fernes Land zu sein. Steins Wünsche für die Zeit nach der Erwerbstätigkeit sind bescheiden: »Nach dem Theater noch etwas unternehmen, ohne am nächsten Tag früh aufstehen zu müssen. Und an einem Buch dranbleiben können.«
Eine klare Meinung hatte die Sozialdemokratin zu der Debatte, die ihre Partei im Spätsommer, vor der österreichischen Parlamentswahl, über die Zusammenarbeit mit den rechtspopulistischen Freiheitlichen führte. Steins Antwort ist auf der Pinnwand in ihrem Büro zu lesen: »Es hat keinen Sinn, eine Mehrheit für die Sozialdemokraten zu erringen, wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein.« Ein Zitat von Willy Brandt. Daneben hängt der Spruch eines anderen Deutschen, Udo Lindenberg. Die Worte hören sich an wie eine Handlungsanleitung für die Gegenwart: »Da musst du easy durchfedern.«