Große Gesten liegen Jay Muhlin nicht, diesem hochgewachsenen Mann mit Vollbart und den melancholischen Augen, die sich scheinbar hinter der dicken Hornbrille verstecken. Sein Humor ist subtil, die Stimme leise. Mit Bedacht wählt der 46-Jährige seine Worte, er scheint nachzudenken, bevor er sich zu einer Äußerung entschließt.
Vor der Pandemie hat Muhlin, der nach dem Studium viele Jahre lang Porträts für namhafte Zeitschriften und Zeitungen anfertigte, als Museumsfotograf Objekte abgelichtet. Dazu gehörte unter anderem die Dokumentation der südasiatischen Kunstsammlung im Philadelphia Museum of Art sowie die Erstellung eines anspruchsvollen Fotoarchivs, das sich mit seltenen Büchern, Kunstwerken und wissenschaftlichen Werkzeugen am Science History Institute befasst.
In seinen Werken erforscht er unter anderem die Absurdität des Alltags.
Diese Arbeit habe es ihm ermöglicht, seiner eigentlichen Leidenschaft nachzugehen. So war er nebenher Mitglied der von Künstlern geführten Vox Populi Gallery in Philadelphia, wo er Kunstbücher und Gemeinschaftsarbeiten schuf. Darüber hinaus war er Dozent für Fotografie und realisierte zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen, darunter auch Kid, eine Fotoausstellung, die mit der Komponente Duft kombiniert wurde.
ISOLATION Im Zuge der Corona-Pandemie wurde auch Muhlins Leben auf den Kopf gestellt. »Meine Frau und ich haben unsere Wohnung teilweise über Monate nicht verlassen, nur der Dachgarten hat uns einen kleinen Ausblick auf die Welt von oben ermöglicht. Ansonsten befanden wir uns im Homeoffice, in Isolation«, sagt Muhlin. Nach und nach habe das Museum seine Mitarbeiter entlassen müssen. Irgendwann traf es auch ihn. Und so hatte er plötzlich Zeit, sich verstärkt der Kunst zu widmen.
In seinen Werken befasst er sich mit Themen wie Intimität, Trost und Verlust und erforscht dabei die Absurdität des Alltags. »Ich seziere die Gesellschaft und schaue, was hinter dem liegen könnte, was wir auf den ersten Blick erfassen.« Das Ergebnis sind vielschichtige Bilderzählungen, die ihre komplexe Beziehung zwischen dem Fotografen und dem Motiv behutsam offenlegen.
»An einem Projekt habe ich insgesamt acht Jahre gearbeitet. Es hieß ›Halflife‹ – halbes Leben – und widmet sich einer Freundin, die sich das Leben nahm.« Das künstlerische Buch war nicht nur eine Art Selbsttherapie, sondern brachte ihm auch ein Stipendium ein.
Das rege Kulturleben von einst schien durch die Pandemie wie auf Eis gelegt. Keine Ausstellungen, kein Austausch innerhalb der kreativen Community, keine Restaurant- oder Flohmarktbesuche. Plötzlich war auch Jay Muhlin auf sich gestellt. Und wurde mit den eigenen Gedanken konfrontiert. Mit der Herkunft. Vor allem aber mit dem Hass und der Panik einer zutiefst traumatisierten amerikanischen Gesellschaft.
VIRUS Muhlin war höchst erstaunt, als er erstmals von den kruden Theorien von Covid-Leugnern, Hasspredigern und Verschwörungstheoretikern hörte. »Besonders in den sozialen Netzwerken wurden auf einmal wir Juden maßgeblich für das Virus verantwortlich gemacht.«
Seiner Ansicht nach war er »bislang immer ein ganz normaler weißer, gebildeter Mann, der aus einer jüdisch-amerikanischen Familie stammt. Meine Eltern, meine beiden Schwestern und ich sind alle in New York aufgewachsen, in der Bronx«, sagt Muhlin. Unter den Vorfahren seiner Mutter sind zahlreiche namhafte Rabbiner, sie lebten in Russland und in der rumänischen Donau-Stadt Galati, wo die Familie einst einen Weinhandel betrieb.
Sein Urgroßvater väterlicherseits, Hermann Muhlstein (Mühlenstein), kam 1888 in New York an und amerikanisierte später seinen Namen zu Muhlin. Der Vater seiner Mutter, erzählt Jay Muhlin, Hy Snell, kämpfte im Zweiten Weltkrieg in der U.S. Army. Später wurde er Dekorateur und schließlich ein bis ins hohe Alter angesehener Bildhauer und Maler, der noch erfolgreich arbeitete, als er bereits erblindet war und damit zum Star des Internets wurde. »Über den Krieg hat er aber fast nie gesprochen«, sagt Muhlin. Mit diesem Großvater habe ihn vor allem die Liebe zur Kunst verbunden.
Aufgewachsen ist er im Geist des konservativen Judentums, einer Art Mittelweg zwischen orthodoxem und Reformjudentum. Er erinnert sich daran, wie schwer ihm als Kind der Hebräischunterricht gefallen ist. »Die reinste Qual!«
VATER Auch Jay Muhlins Vater war Künstler. »Wir sind als Kinder immer mit ihm zur Greenwich Village Art Fair gezogen, um seine Bilder zu verkaufen.« Als der Vater kurz nach seiner Scheidung und nach seiner Konversion zum Buddhismus starb, war Jay Muhlin gerade einmal zehn Jahre alt.
Einer seiner Großväter war Bildhauer. Mit ihm verband ihn die Liebe zur Kunst.
Nach der Highschool studierte Muhlin zunächst Medienwissenschaften an der Syracuse University, später Fotografie an der New York University und an der Tisch School of the Arts. Dort habe er angefangen, sich vor allem mit Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen zu vernetzen.
brotjob Fortan widmete er der Kunst sein Leben, auch wenn er nebenher einen Brotjob brauchte. »Vor allem wollte ich raus aus dem engen familiären Korsett. Ich wollte frei sein, meine eigenen Pfade entdecken.« Dabei haben ihn vor allem Menschen interessiert, die anders waren, anderer Herkunft, Hautfarbe, Religion.
Und wie betrachtet er sich heute? Die Gefahren der Pandemie scheinen gebannt, heute hält der Krieg in der Ukraine die Welt in Atem. Muhlin hat für sich vorläufig einen Anker gesetzt: »Ich betrachte mich als Künstler, als Kosmopolit und als Jude. Ich gehe meinen eigenen Weg.«