Es ist eng geworden im weitläufigen Russland. Intellektuelle und kulturelle Freiräume schrumpfen schon seit Jahren, innerhalb der vergangenen 24 Monate in einer bislang ungeahnten Geschwindigkeit. Die Gedanken sind frei, heißt es in einem alten deutschen Lied, und das sind sie auch in Russland, sogar heute. Nicht aber das geschriebene oder gesprochene Wort. Einen Umgang mit dieser Situation zu finden, ist keine leichte Angelegenheit.
Oleg Aronson, Philosoph, Kunstwissenschaftler und Experte für Filmtheorie, hatte sich jahrelang mit den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen in der Ukraine befasst. Wirklich daran glauben, dass es irgendwann einmal zu einem Krieg kommen wird, wollte er nicht. Auf einer rationalen Ebene ging er hingegen immer davon aus, dass ein solcher Krieg möglich ist.
Als es dann so weit war, setzte er seine Arbeit unbeirrt fort. »Das liegt wahrscheinlich an meinem rudimentär ausgeprägten Gefahrenempfinden«, sagte er im Gespräch. Am 24. Februar 2022 hielt er, wie so oft zuvor, in der Schule des neuen Kinos eine Vorlesung, in der er ganz offen seine Einstellung zu dem aggressiven Angriff Russlands auf die Ukraine darlegte.
Gebeten, den Krieg nicht als solchen zu bezeichnen
Einmal wurde er vor einem Vortrag gebeten, den Krieg nicht als solchen zu bezeichnen. Als Alternative ersetzte er das Wort durch »Katastrophe« – in der Hoffnung, die Anwesenden verstünden, was er damit sagen wollte. Alles in allem hatte er als klarer Kriegsgegner nicht das Gefühl, in Gefahr zu schweben, im Unterschied zu vielen anderen, die noch im Februar das Weite gesucht hatten.
Keine Frage, Russland sei ein depressives Gebiet und die allgemeine Situation belastend. »Aber in Moskau fühlte sich das nicht ganz so extrem an«, erinnert sich Aronson. Denn dort bewege er sich unter Gleichgesinnten. Bei einer Minsk-Reise zu seinen Angehörigen sei er im Kontrast dazu mit einer hypernervösen und angespannten Atmosphäre konfrontiert worden.
Im ersten Kriegsjahr verlief bei Oleg Aronson noch alles glimpflich. Genauer gesagt, bis Juli 2023. Dann geriet er ins Visier des Parlamentsabgeordneten und Ex-Geheimdienstmitarbeiters Andrej Lugowoj, der weltweit Bekanntheit erlangt hatte, weil er 2006 in London den Kremlkritiker Alexander Litwinenko vergiftet hatte. Im Telegram-Messenger verwies Lugowoj auf eine im deutschen LIT Verlag, einem der führenden deutschsprachigen Wissenschaftsverlage, in russischer Sprache erschienene Textsammlung unter dem Titel »Im Angesicht der Katastrophe«. Darin enthalten sind kritische Reflexionen über die Auswirkungen des Krieges, unter anderem von Aronson, der Lugowojs Vorgehen als Denunziation bezeichnet.
Das Erscheinungsdatum lag da bereits rund ein halbes Jahr zurück. Auffallend sei, dass im ersten Denunziationsschreiben nur drei Namen auftauchten, nämlich die der Philosophinnen Elena Petrowskaja und Oksana Timofejewa sowie des Philosophen Oleg Aronson.
Ihm scheint dieser Umstand kein Zufall zu sein, weil es sich um Mitarbeitende oder ehemalige Mitarbeitende der Akademie der Wissenschaften handelte, die ihre Haltung zur Ukraine nicht versteckten. Im Februar 2022 gehörten Elena Petrowskaja und Oleg Aronson beispielsweise zu den Unterzeichnern eines offenen Briefs russischer Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten gegen den Krieg.
»Enorme Angst und das Fehlen einer rechtlichen Absicherung, wie zu Stalins Zeiten.«
Oleg Aronson
Lugowoj begnügte sich indes nicht nur mit einer Notiz, sondern wandte sich auch an die Generalstaatsanwaltschaft. Später verbot ein Gericht die Publikation. Ende Juli erschien dann ein diffamierender Text im nationalistischen und antisemitischen Hetzblatt »Zavtra«. Der Autor kannte Oleg Aronson von Veranstaltungen in einem seit vielen Jahren existierenden unabhängigen Moskauer Buchladen, in dem sich ein politisch interessiertes Publikum einfindet. Bis spätestens 2014 sei es noch normal gewesen, sich dort auch mit politischen Kontrahenten auszutauschen. Heute ist es undenkbar.
Denunziationswellen blieben zunächst aus
Im März, April oder Mai 2022 hätte es bereits Denunziationswellen geben können, aber damals blieben sie aus. »Die Gesellschaft war erst ein Jahr nach Kriegsbeginn reif für kollektive Denunziationen in großem Ausmaß«, sagt Aronson. »Denunziationen sollten eher als ein einer Epidemie ähnelndes Phänomen betrachtet werden und nicht als soziales Normverhalten.« Er stellt eine enorme Angst vor dem politischen Geschehen rundherum fest, gleichzeitig fehle es an einer rechtlichen Absicherung, ähnlich wie zu Stalins Zeiten. Demnach handle es sich nicht um ein moralisches Problem, vielmehr spricht er von einer Angstgesellschaft, in der die Menschen nach Sicherheit strebten und diese im Denunziantentum zu finden glauben.
Manche Vorgänge liegen indes schon länger zurück. Die jüdische Theaterregisseurin, Dramaturgin und Dichterin Jewgenija Berkowitsch sitzt seit Mai vergangenen Jahres in Untersuchungshaft, wie auch ihre Kollegin Swetlana Petrijtschuk. Der Vorwurf: Rechtfertigung von Terrorismus. Konkret geht es um die Inszenierung des Bühnenstücks Finist, der edle Falke, das sich mit der Geschichte von Frauen befasst, die sich dem »Islamischen Staat« angeschlossen haben.
Ein Denunziationsschreiben gegen dieses »antirussische« Stück ging bereits im Mai 2021 bei den Behörden ein, wobei die Initiative auf die extrem rechte sogenannte Nationale Befreiungsbewegung NOD zurückgeht. Terrorismusvorwürfe sorgen seit dem Ausbruch des groß angelegten Krieges gegen die Ukraine immer häufiger für Strafverfahren und harte Urteile.
Die feministische Publizistin Bella Rapoport befand sich glücklicherweise nur kurze Zeit in Polizeigewahrsam in ihrer Heimatstadt St. Petersburg. Das war Ende September 2022, als Wladimir Putin die Teilmobilisierung ausgerufen hatte und für das folgende Wochenende Proteste dagegen angekündigt wurden. Wahrscheinlich sollten im Vorfeld bekannte Meinungsführer isoliert werden, so Rapoports Vermutung. Dabei hatte die Soziologin und Genderforscherin selbst gar nicht zur Protestteilnahme aufgerufen. Andere der ein Dutzend prophylaktisch Festgenommenen hatten später Russland verlassen – sie blieb, trotz des Schreckens, womöglich wegen des absurden Vorwurfs des Telefonterrorismus angeklagt zu werden. »Ich wurde seither nicht mehr belangt«, sagt sie heute.
Rechtsmittel gegen das gesetzeswidrige Vorgehen der Polizei
Die bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmten Gegenstände bekam sie zurück, und ihr Anwalt versucht, Rechtsmittel einzulegen gegen das gesetzeswidrige Vorgehen der Polizei. »Der Kontakt zu meinem Anwalt holt mich auf den Boden der Tatsachen zurück«, konstatiert Rapoport. Oppositionsmedien vermittelten den Eindruck, die Behörden könnten schalten und walten, wie sie wollen.
Das System an sich sei zwar pervers, trotzdem funktioniere es aber nach gewissen Gesetzmäßigkeiten, was es überhaupt erst möglich mache, dass Menschenrechtsanwälte immer noch arbeiten könnten. »Armeediskreditierung kann man mir beispielsweise nicht vorwerfen, weil ich nichts dergleichen in meinem Telegram-Kanal veröffentlicht habe. Ich lasse Vorsicht walten, und das System macht um mich einen Bogen. Diesen Kompromiss bin ich bereit einzugehen.«
Zu Kriegsbeginn fiel die studierte Anthropologin in ein Loch, sie hatte das Gefühl, es gebe keine Zukunft mehr. Sie beobachtete, wie der Westen reagierte, und hatte den Eindruck, dass von dort nur halbherzige Unterstützung erfolge. Alles, was im Moment passiert, sei furchtbar. Dieser Schrecken werfe einen auf sich selbst zurück und zwinge dazu, über Voraussetzungen für Kriege nachzudenken – hier und anderswo. Denn auch das Geschehen in Israel und in Gaza beschäftigt sie.
Kein Blatt vor den Mund nehmen
Bella Rapoport ist eine Frau, die normalerweise kein Blatt vor den Mund nimmt, keine Auseinandersetzungen scheut und sich in kein festes Schema pressen lassen will. Sie sei von niemandem abhängig und schreibe, was sie möchte, jedenfalls beinahe. Sie lacht. Dass es Grenzen gebe, sei auch klar. Heute bleibt ihr nur ihr eigener Telegram-Kanal mit 5700 Followern und einer dankbaren Leserschaft, die sie mit Spenden unterstützt. Früher publizierte sie in liberalen Medien, heute kann sie das nicht mehr. Das liege auch daran, dass sie längst nicht mit allem einverstanden sei, was dort erscheine, vor allem aber am enormen persönlichen Risiko.
Denn wer für ein als »unerwünschte ausländische Organisation« deklariertes Medium schreibt, wie zum Beispiel das oppositionelle Onlineportal »Meduza«, macht sich strafbar. »Ich kann auch keine Mitteilungen von ›Meduza‹ über Bombardierungen in meinem Kanal teilen. Aber ich nehme das inzwischen hin, weil es viele andere gibt, die darüber aktiv diskutieren und selbst Nachrichten verfassen.« Dafür stört es sie, dass die Situation in Belgorod, das Ziel ukrainischer Raketen ist, vernachlässigt werde. Selbst Kreml-nahe Medien handelten das Thema nur pro forma ab.
»Ich lebe hier. Das ist mein Land, meine Zukunft!«
Bella Rapoport
Ihre Aktivitäten hat Bella Rapoport stark reduziert. »Ich kann mich natürlich nicht mit einem Plakat auf die Straße stellen. Aber das habe ich die ganzen 2010er-Jahre hindurch getan und bin es inzwischen leid.« Sie findet es sinnlos, immer so zu tun, als ob man etwas bewirken könne, während andere nur Fernsehen konsumieren. Früher reiste sie oft ins Ausland, dafür fehle ihr nun das Geld. Aber das störe sie wenig.
Sie sei aufmerksamer geworden in Bezug auf ihre unmittelbare Umgebung, betont, dass Menschen in humanitären Projekten involviert seien und Geflüchtete aus der Ukraine unterstützen. Für vertrauliche Gespräche reichten ihr wenige enge Kontakte, und auch mit der Familie verbringe sie wieder mehr Zeit. »Ich bin froh, dass ich nicht weggegangen bin«, lautet ihr Fazit. »Ja, ich lebe hier, ja, das ist mein Land, meine Zukunft.«
Oleg Aronson hat Russland notgedrungen vorerst verlassen, trotzdem versteht er sich als Dagebliebener. Es sei schwierig, einen guten Modus zu finden, dort zu leben. Es gebe Situationen und Zustände, wo sich Widerstand und Freiheit nur im Schweigen manifestieren. »Große und schöne Worte verbessern die Situation nicht. Handlungsaufrufe sind dann etwas beinahe Unmoralisches, weil wir sehen, dass aktives Handeln als Straftat verfolgt wird«, so Aronson. Dazu seien nur Einzelne in der Lage, regelrechte Helden.
Die Opposition hat sich von einer artikulierenden zu einer stillschweigenden gewandelt, ist Aronson überzeugt. »Ich halte mich auch eher für einen, der schweigt, als für einen, der offen spricht, denn meine Stimme ist sehr schwach ausgeprägt.«