Zürich

Die Frau hinter den Büchern

Als Literaturagentin kannte Eva Koralnik die Geheimnisse vieler berühmter Schriftsteller. Nun geht sie der Geschichte ihres eigenen Lebens nach

von Nicole Dreyfus  15.05.2024 14:47 Uhr

Niemand kannte die Schreibenden, oftmals Geflüchteten, besser als Eva Koralnik. Foto: Alain Picard

Als Literaturagentin kannte Eva Koralnik die Geheimnisse vieler berühmter Schriftsteller. Nun geht sie der Geschichte ihres eigenen Lebens nach

von Nicole Dreyfus  15.05.2024 14:47 Uhr

Der Blick aus Eva Koralniks Küche führt zum Waldrand hinauf. Ganz oben, wo die Stadt auf die Natur trifft, verweilt sie gern: »Es ist mein täglicher Sport, diese kleine Steigung zu überwinden.« Steigungen musste Eva Koralnik schon einige bezwingen, aber »das Leben meinte es immer gut mit mir«. In dieser modernen Küche mit dem langen Holztisch und der Tischdecke, die aus einer anderen Zeit gefallen scheint, erzählen die Gegenstände nicht nur ihr Eigenleben, sie sind vor allem Teil von Eva Koralniks Biografie. Jedes Stück hatte seinen Auftritt, spielte eine Rolle in ihrem Leben.

Die in jeder ihrer Bewegungen elegante Frau hat etwas sehr Waches, Präsentes, wenn sie spricht oder beiläufig Kaffee zubereitet, während sie von ihrer Tätigkeit als Literaturagentin erzählt. Sie leitete gemeinsam mit Ruth Weibel die renommierte Literaturagentur Liepman in Zürich.

Wie wird man Literaturagentin? Man ist es vermutlich einfach. Diesen Eindruck gewinnt man, wenn man Eva Koralniks Erzählungen lauscht. Sie reiht Geschichte an Geschichte, breitet sie aus wie die selbst gemachten Kekse, die sie ins Wohnzimmer bringt. Auch hier – wo der Blick hinfällt – Bücher und Erinnerungen an den Wänden. Da ein gerahmter 100-Franken-Schein signiert von Andy Warhol, dort das Foto mit Heinz Liepman, der neben Albert Einstein sitzt. Dann fallen Namen wie Max Brod, Erich Fromm, Norbert Elias, Ida Fink, Jeanne Hersch, Abraham B. Yehoshua, David Grossman, Arno Gruen, Elias Canetti, Ephraim Kishon, Mascha Kaléko – die Liste ist unvollständig. Niemand kannte all diese Schreibenden, oftmals Geflüchteten, vielfach Gestrandeten besser als Eva Koralnik.

Zu ihren Autoren gehörten Erich Fromm, Abraham B. Yehoshua und Mascha Kaléko.

Die Agentur war – so wie heute – zuständig für Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die damals in der legendären Villa am Maienburgweg am Fuße des Zürichbergs ein und aus gingen. In den oberen Stockwerken des Hauses lebte auf der einen Seite Eva Koralnik mit ihrer Familie, auf der anderen die Gründerin der Agentur, Ruth Liepman. In der Villa waren die Büros der Agentur untergebracht, die alles vertrat, was im internationalen Literaturbetrieb Rang und Namen hatte. »Es war normal für uns, im gleichen Haus zu leben und zu arbeiten. Mein Mann, der auch im Kulturbereich tätig ist, störte sich nicht daran, nur unsere Tochter wünschte sich manchmal etwas mehr Privatsphäre.«

So stand auch oft das Persönliche im Vordergrund. »Als Agentin ist man auch Vertrauensperson und weiß neben Finanzen auch über manch heikle private Angelegenheiten Bescheid«, erzählt Koralnik. Verlegerpersönlichkeiten wie Rowohlt, Piper, Beck, Klett oder Droemer gehörten zu den Geschäftspartnern der Agentur. »Diese Menschen standen mit ihren Namen und Geschichten hinter den Verlagen«, erinnert sich Koralnik. Nächtelang habe man auf Messen zusammengesessen und über Autoren und Bücher diskutiert. Mit allen war man auf Du und Du.

»The rights are with Liepman«, hieß es oft

»The rights are with Liepman«, hieß es oft. Es ging nicht nur um die Rechte an Originaltexten, sondern auch um Übersetzungen und Nachlässe. Jeden Tag trafen per Post Manuskripte ein, die man beurteilen musste. Es gab auch Entdeckungen wie Peter Stamm oder Erfolge wie den Roman Salz auf unserer Haut (1988) der französischen Autorin Benoîte Groult. Die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe zwischen einer Pariser Intellektuellen und einem bretonischen Fischer wurde mit mehr als drei Millionen verkauften Exemplaren ein Bestseller. Koralnik erzählt, dass die Feministin Groult sie »mon agente« nannte, eine Bezeichnung, die es davor im Französischen nicht gegeben hatte.

Die Arbeit der Literaturagenten war arbeitsintensiv. »Heute sitzt man am Bildschirm, zu Hause oder im Büro. Früher hatte das Geschäft ein schwerfälliges Tempo. Man saß stundenlang am Schreibtisch, tippte Verträge mit vier Kopien und vertippte sich. Dann kam der Telex mit den Lochstreifen, später das Faxgerät …«

Da flackert eine neue Erinnerung auf. Eva Koralnik beginnt, lebhaft zu erzählen: »Ephraim Kishons Bücher waren bereits in über 40 Sprachen übersetzt.« Aber Albanisch fehlte noch, was Kishon wurmte. Über Umwege habe sie zu seiner Freude einen Verleger in Albanien gefunden. »Kishon bemängelte jedoch, dass wir kein Faxgerät hatten. Es wäre an der Zeit, endlich ein solches anzuschaffen.« Ein paar Wochen später klingelte ein Kurier an der Tür der Agentur. »›Schöne Grüße von Herrn Kishon‹, sagte der Mann und trug uns ein nigelnagelneues Faxgerät ins Haus. Auf der großen Schachtel klebte ein Zettel, auf dem auf Ungarisch in Kishons Handschrift geschrieben stand: ›Danke für Albanien‹.«

Der Zettel hing noch lange eingerahmt in der Agentur. Später habe Kishon, einer der erfolgreichsten Satiriker des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, per Taxi neue Faxstreifen an die Agentur schicken lassen.

Koralnik wirkt amüsiert, wenn sie an diese Episode zurückdenkt. Dann beugt sie sich nach vorn und zieht von Hand geschriebene Briefe und Postkarten aus einem Stapel hervor. Ihr Blick wird nachdenklich, als sie die an sie adressierten Dokumente von Mascha Kaléko zeigt. »Mascha lebte zu der Zeit mit ihrem Mann Chemjo Vinaver in Jerusalem. Aber sie fand sich in dieser Stadt nie zurecht, fühlte sich dort nicht zu Hause.«

Es ergab sich eine Freundschaft und später Zusammenarbeit, für die sie jeweils nach Zürich kam und auch bei Eva, damals noch Rottenberg, wohnte. Die Agentur verhalf ihrem Werk zu einem Comeback in Deutschland. Kaléko sollte noch oft nach Zürich kommen und später auch dort sterben. Ihr Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Zürich.

Ein schicksalhafter Kaffee

Auch mit der Gründerin der Agentur Liepman verband Eva Koralnik eine tiefe Freundschaft. Sie trinkt einen Schluck Kaffee, bevor sie weitererzählt. Kaffee ist das Stichwort. »Es war vermutlich der schicksalhafteste Kaffee in meinem Leben. Nämlich 1962, als mich eine Ruth Liepman aus Zürich zu einem Kaffee einlud und mir einen Job anbot.«

Koralnik, mit einem Übersetzerdiplom in der Tasche, hatte es zuvor nach Israel gezogen. Ein junger Züricher Verleger, Daniel Keel, der seinen Diogenes Verlag nur einige Jahre zuvor gegründet hatte, beauftragte die damals 26-Jährige, eine Anthologie mit Erzählungen der besten israelischen Autorinnen und Autoren herauszugeben. Aus dem Hebräischen übersetzen sollte die junge Frau, die »immer etwas mit Büchern zu tun haben« wollte, gleich selbst. Schalom wurde die erste deutschsprachige Anthologie hebräischer Autoren – mit dem Vorwort wurde ein gewisser Heinrich Böll beauftragt. Eva Koralnik musste für dieses Projekt Rechte einholen, »beängstigendes Neuland«, wie sie rückblickend erzählt, »aber mein Einstieg in den Agentenberuf«.

Während dieser Tätigkeit in Jerusalem lernte sie die aus Wien eingewanderte Kinder- und Jugendbuchautorin Rusia Lampel kennen. Deren Bücher waren beim Schweizer Sauerländer Verlag ein großer Erfolg. »Lampel sagte mir, ihre Agentin suche eine Mitarbeiterin, ob das nicht etwas für mich wäre.« Eva lehnte kategorisch ab. Sie wollte nicht zurück in die Schweiz, nach St. Gallen, wo sie aufgewachsen war, oder nach Genf, wo sie studiert hatte. Sie wollte in Israel bleiben.

Der israelische Staat steckte noch in den Kinderschuhen, brauchte motivierte junge Leute. »Zudem wusste ich gar nicht, was eine Agentin war. Lampel meinte, das ist jemand, der alles für dich erledigt.« Eva war für einen Familienbesuch in der Schweiz, als Ruth Liepman anrief. Zusammen mit ihrem Mann Heinz Liepman, der aus dem amerikanischen Exil mit einer Liste wichtiger Autoren nach Deutschland zurückgekehrt war, hatte die Hamburger Juristin 1949 die erste Literaturagentur der Nachkriegszeit in Deutschland gegründet. Ihr Ansatz war von vornherein international: Wichtige Bücher aus der ganzen Welt sollten in die ganze Welt gebracht werden. Ihre Hamburger Wohnung wurde zu einem kulturellen Treffpunkt, bis die Liepmans 1961 nach Zürich zogen, wo sie nun jemanden suchten, der sie in ihrer Tätigkeit unterstützen sollte.

»Ruth akzeptierte mein ›Nein, danke‹ am Telefon nicht als Antwort. Ihr Charme und ihre Überzeugungskraft waren stärker als meine Argumente. Also ging ich doch hin.« Und so kam es zu diesem schicksalhaften Kaffee mit Ruth und Heinz Liepman im Züricher Niederdorf, wo die beiden wohnten und arbeiteten – und Eva Koralniks Weichen neu stellten. Ruth Liepman wurde nicht nur Chefin, sondern auch Mentorin, Vorbild, Freundin und später Geschäftspartnerin.

Nach Heinz Liepmans Tod 1966 führte Ruth Liepman die Agentur zusammen mit Eva Koralnik und Ruth Weibel weiter. Sie vertraten inzwischen anglo-amerikanische, französische, israelische, holländische Verlage sowie eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren aus aller Welt und betreuten wichtige Nachlässe wie den von Anne Frank.

Die Agentur wird seit 2013 von Koralniks Sohn Marc weitergeführt

War die Agentur Liepman über Jahrzehnte eine der drei maßgebenden in Zürich – man pflegte ein freundschaftliches Verhältnis zueinander –, so zählt man heute unzählige Agenturen im Literaturbetrieb. Die Agentur wird seit 2013 in dritter Generation von Eva Koralniks Sohn Marc erfolgreich weitergeführt. Es macht Eva Koralnik stolz, dass der Vorschlag, das literarische Erbe anzutreten, von ihrem Sohn selbst kam, der in dieser Welt von Literaten und Verlegern groß geworden ist.

Ephraim Kishon nervte es, dass Eva Koralnik kein Faxgerät besaß – und schickte ihr eins.

Heute wohnen Eva Koralnik und ihr Mann Pierre nicht mehr in der herrschaftlichen Villa. Aber auch aus ihrem neuen Wohnzimmer gleitet der Blick über die Stadt, in die sie einst nicht ziehen wollte. Denn die 1936 in Budapest Geborene ist nur durch Glück in die Schweiz gekommen. Ihre Großeltern aus St. Gallen führten ein Textilgeschäft in Budapest, wo sich Evas Eltern kennenlernten.

Nach damaliger Gesetzgebung verlor Evas Mutter, Berta Rottenberg-Passweg, durch Heirat ihr Schweizer Bürgerrecht und wurde Ungarin. Die Familie lebte wie viele ungarische Jüdinnen und Juden eine orthodoxe Form des Judentums und war gleichzeitig gut an die bürgerliche Gesellschaft assimiliert. »Nie hätten sich meine Eltern träumen lassen, dass ihnen die Religion zum Verhängnis werden würde«, sagt Eva Koralnik.

Berta Rottenberg versuchte, bei der Schweizer Gesandtschaft ihr Bürgerrecht wiederzuerlangen – in der Hoffnung auf eine Rückkehr in das Land. Sie erhielt eine Einreiseerlaubnis in die Schweiz, besaß jedoch keine Durchreisepapiere durch das von Deutschland besetzte Österreich.

Ihre Bemühungen waren erfolglos, bis sich Legationssekretär Harald Feller an der Schweizer Gesandtschaft in Budapest ihrer und drei weiterer Frauen in ähnlicher Lage annahm. Er fand für sie eine Unterkunft, wo sie unter schwierigen Bedingungen von August bis Oktober 1944 auf die nötigen Durchreisepapiere warteten. Hier kam, illegal im Versteck, Evas Schwester Vera – später die erste jüdische Bundesrichterin der Schweiz – zur Welt.

Was sich danach ereignete, war die abenteuerliche Fluchtgeschichte, die Harald Feller orchestriert hatte: Für die erste Nacht in Wien wurde die Gruppe von der Gestapo abgeholt und im berühmt-berüchtigten Hotel Métropole, dem Gestapo-Hauptquartier, unbehelligt untergebracht. Eva Koralnik fühlt sich Harald Feller bis heute zu Dank verpflichtet, dass die Familie überlebt hat. »Als wir nach drei Tagen in St. Gallen ankamen, stand die Großmutter da. Alle weinten. Das war das Ende der Reise und der Anfang eines neuen Lebens.«

Viele Jahre später schrieb Eva Koralnik dem Schweizer Diplomaten, der mehr als 30 Juden das Leben gerettet hatte und selbst – wie Raoul Wallenberg – in sowjetische Gefangenschaft geriet, um mehr über die Rettung ihrer Familie zu erfahren. Auf ihre Initiative hin wurde er 1999 von Yad Vashem mit dem Ehrentitel »Gerechter unter den Völkern« geehrt.

Ruth Liepman und Harald Feller leben heute nicht mehr. Beide waren wegweisend für Eva Koralnik. Sie haben ihr ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, sie zu der Frau gemacht, die die 87-Jährige bis heute ist – durchsetzungsfähig und zurückhaltend zugleich.

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