In den engen Gassen des Marais, des alten jüdischen Viertels von Paris, ist diese Woche deutlich weniger los als sonst. Vor dem Schnellrestaurant »As du Falafel«, das in jedem Reiseführer steht, bildet sich normalerweise zu jeder Tageszeit eine lange Schlange. Doch seit die Touristen wegen der Corona-Pandemie nicht mehr in die französische Hauptstadt kommen, fehlt auch der koscheren Gaststätte an der Rue de Rosiers die Kundschaft.
AUSGANGSSPERRE Die Formulare, die seit zwei Wochen jeder Restaurantbesucher ausfüllen muss, bleiben meist unbenutzt vor dem Eingang liegen. Abends ist das »As du Falafel« sowieso geschlossen, denn seit Samstagabend gilt in Paris und Umgebung eine Ausgangssperre, die von 21 Uhr abends bis sechs Uhr morgens dauert. Wer dagegen verstößt, muss 135 Euro zahlen.
Die Regierung hatte die Maßnahme vergangene Woche verkündet, nachdem die Zahl der Neuinfektionen dramatisch angestiegen war. Betroffen sind neben dem Großraum Paris auch Marseille, Lyon, Aix-en-Provence, Grenoble, Lille, Toulouse, Rouen, Montpellier und Saint-Etienne.
Mit mehr als 33.000 Toten gehört Frankreich zu den am meisten von der Corona-Pandemie betroffenen Ländern. Allein am Sonntag wurden fast 30.000 Neuinfektionen gezählt; in Paris sind es mehr als 400 pro 100.000 Einwohner.
Eine Maskenpflicht gilt schon seit Wochen in den großen Städten. Mit der nächtlichen Ausgangssperre ist eine neue Stufe erreicht – auch für die jüdische Gemeinde in Frankreich, die mit rund 500.000 Mitgliedern die größte in Europa ist.
JUGENDLICHE »Wir haben hier Jugendliche, die gerne abends ausgehen. Aber wir haben sie davon überzeugt, dass sie nun zu Hause bleiben«, sagt Michel Serfaty, Rabbiner in Ris-Orangis südlich von Paris.
»Wir haben unsere Vorkehrungen getroffen, damit alle Aktivitäten vor 21 Uhr enden und wir dann zu Hause sind.« Beschränkungen seien seit der strengen Ausgangssperre im Frühjahr ja nichts Neues.
Von Mitte März bis Mitte Mai durften die Franzosen nur eine Stunde am Tag das Haus verlassen, und das auch nur mit einem Passierschein im Umkreis von einem Kilometer. Die Synagogen und jüdischen Schulen blieben in dieser Zeit alle geschlossen. Gottesdienste und Unterricht wurden im Internet abgehalten.
Inzwischen sitzen die meisten Schüler wieder im Klassenzimmer, allerdings mit Maske und mehr Abstand als vorher. »Die Bänke stehen weiter auseinander, und beim Essen dürfen nur vier Kinder an einem Tisch sitzen«, sagt Serfaty, der den Verwaltungsrat einer kleinen jüdischen Schule in Savigny leitet.
Schon Mitte Februar hatte der Rabbiner in seiner Gemeinde strenge Maßnahmen ergriffen. Lange bevor beispielsweise Präsident Emmanuel Macron eine Maske aufsetzte, trug Serfaty schon den Mund-Nasenschutz und gab niemandem mehr die Hand. Die Maßnahmen, die er damals ergriff, gelten auch heute noch. In der Synagoge sind nicht alle Stühle besetzt, die Torarolle darf nicht berührt werden, und Serfaty schützt sich mit einem Plastikvisier.
TURNHALLE Für Rosch Haschana und Jom Kippur hatte er eine Turnhalle gemietet, um die Gläubigen im Abstand von zwei Metern voneinander zu halten. Senioren über 80 und Kinder unter elf Jahren mussten zu Hause bleiben.
Beerdigungen gibt der 77-jährige Rabbi an jüngere Kollegen ab. Das Risiko geht er nicht ein.
Der jüdische Dachverband CRIF mahnt schon lange, auf große Versammlungen zu verzichten, die Abstandsregeln einzuhalten und Masken zu tragen. Zu Sukkot wünschte das CRIF allen Gläubigen ein frohes Fest, begleitet von der Aufforderung »Bleibt vorsichtig«.
Michel Serfaty hielt sich daran. Der Rabbiner verzichtete darauf, die Gläubigen in seiner Laubhütte zu empfangen, die er zwischen dem Gehweg und seiner Synagoge aufgestellt hatte. Stattdessen gab es für jeden Gläubigen eine Schale, die der pensionierte Hebräischprofessor selbst mit Essen gefüllt hatte, um sie nicht durch mehrere Hände gehen zu lassen.
Auch sonst gelten weiterhin strenge Maßnahmen in seiner Gemeinde mit rund 150 Familien: Hochzeiten feiert er nur im ganz kleinen Kreis oder draußen, Beerdigungen hat er ganz an jüngere Rabbiner abgegeben. »Das Risiko will ich nicht eingehen«, sagt der hochgewachsene 77-Jährige, der in seinen jungen Jahren ein erfolgreicher Basketballspieler war.
STRASSBURG Mit seinen strikten Regeln ersparte Serfaty seinen Gemeindemitgliedern bereits im Frühjahr eine Ansteckungswelle, die viele andere Gemeinden nach Purim erfasste. Besonders schwer getroffen wurde Straßburg, wo elf der 13 Rabbiner erkrankten.
Der Vorsitzende des Konsistoriums, Maurice Dahan, lag wochenlang im Koma und hat immer noch mit den Spätfolgen der Krankheit zu kämpfen. Die Gemeinde, die mit rund 20.000 Mitgliedern zu den größten Frankreichs gehört, hatte auch viele Tote zu beklagen.
»Wir wurden sehr schwer getroffen«, sagt Thierry Roos, Mitglied des Straßburger Konsistoriums. Für die Gottesdienste an den Hohen Feiertagen, an Rosch Haschana und Jom Kippur, traf das Konsistorium deshalb strenge Vorkehrungen: In den Synagogen war nur in jeder zweiten Reihe einer von zwei Sitzen besetzt. »Aber die meisten Leute sind ohnehin zu Hause geblieben.«
FINANZPROBLEME Sorgen macht sich der engagierte Zahnarzt um die Gemeindemitglieder, die im Zuge der Pandemie ihre Arbeit verloren. »Es gibt Menschen, die in finanziellen Schwierigkeiten stecken und nichts mehr zu essen haben.«
Besonders betroffen seien die Studenten, denen die kleinen Jobs weg brechen, mit denen sie sich bisher über Wasser hielten. Eine Lebensmittelausgabe, die das ganze Jahr über funktioniert, hilft den Betroffenen.
Von Arbeitslosigkeit sind viele Studenten betroffen, deren kleine Jobs wegbrechen.
Die Krise trifft auch den Handel mit koscherem Fleisch. Der über die Landesgrenzen hinaus bekannten Metzgerei Buchinger, die Baden-Württemberg, die Schweiz und sogar Belgien beliefert, blieben die Kunden weg, sagt Roos.
Da inzwischen ganz Frankreich von der Bundesregierung zum Risikogebiet erklärt wurde, sind Reisen dorthin nur noch möglich, wenn hinterher eine Quarantäne eingehalten wird. Für ein paar Stücke Fleisch ist vielen Kunden dieser Aufwand zu groß.