Für Harriet Schleifer ist der zweite Tag von Schawuot von besonderer Bedeutung. »Ich werde gleich in die Schul gehen, schließlich ist heute auch Jiskor – das bedeutet mir sehr viel«, sagt sie am Telefon. Die gerade zur Präsidentin des American Jewish Committee (AJC) gewählte Rechtsanwältin ist Tochter von Schoa-Überlebenden aus Polen; das Gedenken zu Jiskor ist ihr deshalb ein privates Bedürfnis, aber auch politische Verpflichtung.
Es erfülle sie mit großer Demut, die Organisation führen zu dürfen, sagt Harriet Schleifer.
Schleifer ist die erste Frau an der Spitze der 1906 gegründeten wichtigsten amerikanischen Interessenvertretung für jüdische Belange. Längst ist das AJC auch eine der weltweit bedeutendsten Stimmen für ein selbstbewusstes Judentum und gegen jede Form von Rassismus und Antisemitismus. Das mitteleuropäische Büro des AJC in Warschau trägt den Namen von Harriet Schleifers Eltern, Rubin und Frances Partel. Sie kamen 1947 mithilfe der Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS) in die Vereinigten Staaten.
geschlechtsspezifik Für Schleifer ist die Tatsache, die erste Frau an der Spitze des AJC zu sein, von nachrangiger Bedeutung. »Ich nehme es schon wahr und ernst, die erste Präsidentin zu sein. Dennoch hoffe ich sehr, dass man meine Arbeit als möglichst erfolgreich wahrnehmen wird, ohne dass sie einer geschlechtsspezifischen Charakterisierung unterliegen muss.«
Es erfülle sie mit großer Demut, die Organisation führen zu dürfen, sagt sie. »Die Mission des AJC ist zu gleichen Teilen partikularistisch und universalistisch. Einerseits versuchen wir, das Wohlergehen aller Juden weltweit zu verbessern und Israel einen sicheren Platz in der Staatengemeinschaft zu ermöglichen.« Andererseits gelte das aber nicht nur für Juden, sondern für alle Menschen. »Wir müssen das unverbrüchliche Recht auf individuelle Freiheit für alle Menschen durchsetzen.«
Harriet Schleifer spricht die Dinge gelassen aus. Sie lässt aber keinen Zweifel daran, dass sie davon überzeugt ist, auch die größte Herausforderung zu meistern: den Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus. Es ist kein Furor, kein Eifer, der aus ihren wohlgesetzten Worten spricht, es ist eine tiefe moralische Überzeugung.
Antisemitismus »Als Kind von Holocaust-Überlebenden sehe ich es als meine Bestimmung an, Menschen zu beschützen und die Welt nach Möglichkeit ein wenig zu heilen. Ich habe mich also entschlossen, den Antisemitismus zu bekämpfen.« Dies betreffe den Kern ihres Daseins, sagt sie. »Ich möchte, dass kein einziger Jude auf der ganzen Welt Angst haben muss, seine Kippa zu tragen oder ein anderes Symbol, das ihn als Juden ausweist.« Der Antisemitismus müsse »in Schach gehalten« werden – »auch in den USA, wo er seine hässliche Fratze gerade wieder zeigt. Ich werde mir das nicht ansehen. Ich werde nicht zulassen, dass antisemitisches Verhalten oder antisemitische Bemerkungen als etwas Gewöhnliches hingenommen und akzeptiert werden«.
Harriet Schleifer ist weit davon entfernt, naiv zu sein. Dazu hat die Mutter zweier Kinder und erfolgreiche Anwältin, die sich auf Rechtsfragen der Erziehung und Ausbildung spezialisiert hat und einer jüdischen Gemeinde im Südosten des Bundesstaates New York vorstand, zu viel erlebt – beruflich wie ehrenamtlich. Ihre Äußerungen entspringen also einer gelassenen Entschlossenheit.
»Antisemitismus ist nicht akzeptabel und wird es niemals sein. Um das zu gewährleisten, müssen wir uns breiter aufstellen und Partner auch in anderen Gemeinden, Religionen und ethnischen Gruppen suchen, die unsere Werte teilen«, betont sie. Es sei ihr sehr wichtig, sich mit anderen zusammenzutun. »Ist eine Gruppe in Not, sind wir alle in Not. Natürlich möchte ich den Antisemitismus beseitigen, aber jede Art von Vorurteilen gegen eine andere Gruppe gehört genauso ausgelöscht. Für derlei Dinge darf in unserer Welt kein Platz sein.«
»Wir müssen Partner auch in anderen Gruppen suchen, die unsere Werte teilen.«
Die 66-Jährige verfolgt natürlich die Ereignisse in Europa und in Deutschland ganz genau. »Als Erstes geht es einmal darum, die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) durchzusetzen, nicht nur in der EU, sondern auch in den einzelnen Ländern.« Die deutsche Bundesregierung schloss sich dieser Definition 2017 an.
Die IHRA-Definition ist für Schleifer eines von mehreren Bildungs- und Erziehungselementen. »Wir müssen das Schülern beibringen. Polizisten werden ausgebildet, die Definition zur Grundlage ihrer Arbeit zu machen, Ausbildung ist ein Kern unserer Arbeit.«
Stolz Die Debatte um den Rat des Antisemitismusbeauftragten der deutschen Bundesregierung, Felix Klein, die Kippa manchmal besser nicht zu tragen, lässt sie beredt unkommentiert. Doch sie ergänzt: »Wenn wir nächstes Jahr in Berlin unser Global Forum veranstalten, wollen wir ein Schabbat-Dinner veranstalten und mit Kippot durch die Straßen Berlins laufen. Wir werden der Welt zeigen, dass Antisemitismus nicht hinnehmbar ist und dass wir unsere Religion frei und stolz praktizieren.«
Harriet Schleifer will auch das Verständnis von Journalisten für Israel und das alltägliche Leben dort schärfen. Und dann hat sie noch die Arbeit mit ihrem »Chapel Haven Schleifer Center«, einem Wohn-, Lehr- und Therapiezentrum, das 250 Menschen mit sozialen und Entwicklungsbeeinträchtigungen lebenslange individuelle Unterstützung bietet. Es ist ein Mammutprojekt, das sie mit ihrem Mann Leonard ins Leben gerufen hat.
Wird ihr das nicht zu viel, zwei solche Aufgaben zu schultern? »Das schaffe ich!«, sagt sie. »Mein Herz ist groß genug, und meine Energie ist geradezu verrückt.« Zuzutrauen ist es ihr – denn Beruf und Berufung sind bei Harriet Schleifer eins.