Redezeit

»Die Einheitsgemeinde ist die einzige Option«

André Bollag über 150 Jahre Israelitische Cultusgemeinde Zürich, jugendliches Engagement und den »Kantönligeist«

von Peter Bollag  12.03.2012 09:24 Uhr

André Bollag Foto: icz

André Bollag über 150 Jahre Israelitische Cultusgemeinde Zürich, jugendliches Engagement und den »Kantönligeist«

von Peter Bollag  12.03.2012 09:24 Uhr

Herr Bollag, 150 Jahre Israelitische Cultusgemeinde Zürich – was gibt es da eigentlich zu feiern?
Ich glaube, dass gerade im Wissen um den Genozid am jüdischen Volk während der Nazi-Zeit das Bestehen einer jüdischen Gemeinde, die 150 Jahre alt ist, schon ein klarer Anlass zum Feiern ist. In vielen Ländern, nicht zuletzt in Osteuropa, gab es jüdische Gemeinden bis zum Zweiten Weltkrieg. In anderen konnten Gemeinden nach der Katastrophe neu gegründet werden. Bei uns in der Schweiz existieren jüdische Gemeinden durchgehend – trotz aller Probleme. Sicher ein Hauptgrund, sich dessen bewusst zu sein und dies entsprechend zu feiern. Nicht ausgelassen, aber besinnlich jüdisch.

Und wie genau wird gefeiert?
Der Start zu den Festlichkeiten erfolgt an diesem Wochenende – mit einem Großanlass. Weiter sind für Ende August ein »Chasanut light«-Event geplant. Eventuell gibt es noch ein weiteres Konzert mit einem israelischen Künstler.

Wo kann man die ICZ eigentlich einordnen?
Wir sind eine orthodox geführte Einheitsgemeinde. Deren Mitglieder leben selbst meist nicht orthodox, sondern verstehen sich als traditionell, wie immer man dieses Wort auch definiert. In Deutschland ist es wohl nicht anders. Ich bezeichne dies gerne als die »stellvertretende Orthodoxie«. Damit meine ich, dass das einzelne Mitglied das Gemeindeleben weitgehend orthodox organisiert haben möchte, aber eben nur dann, wenn die anderen es planen. Das kommt dann vor allem den zehn Prozent der Gemeinde entgegen, die selbst orthoprax oder religiös leben. Sie kommen also in den Genuss einer orthodox geführten Gemeinde. Je weniger aber orthodox sind, desto schwieriger wird dieses Unterfangen. Zum Schluss muss man sich diese religiösen Dienste sogar erkaufen. Etwa, indem man beispielsweise Männer dafür bezahlt, dass sie einen Minjan besuchen und so für das nötige Quorum sorgen. Dies wiederum ist aber eben mit den knappen Budgets, unter denen auch wir leiden, enorm schwierig umzusetzen.

Und wie positioniert sich die ICZ in Zürich, wo es ja ein reiches jüdisches Gemeindeleben gibt?
Wir haben in Zürich vier jüdische Gemeinden, zwei davon sind ultraorthodox (eine davon folgt einem polnischen und die andere einem deutschen Ritus), und eine liberale Gemeinde. In der ICZ – der vierten dieser Gemeinden – finden wir alle Schattierungen, außer vielleicht der ultraorthodoxen. Diese überaus breite Möglichkeit kann keine der anderen Gemeinden in Zürich bieten.

Die ICZ ist also eine sogenannte Einheitsgemeinde und diese Einheitsgemeinde hätte keine Zukunft, ist immer wieder einmal da und dort zu hören?
Die Einheitsgemeinde bietet meiner Meinung nach gerade im Gegenteil mittelfristig die einzige Option. Den sogenannten Kantönligeist, wie wir in der Schweiz sagen, also eine Art Separatismus, kann sich niemand mehr leisten. Es läuft auf das Holding-Prinzip hinaus: Abteilungen mit den verschiedenen Ausrichtungen unter einem großen Dach.

Und wie hält es die ICZ mit den Jungen?
Die Jungen sind leider oft das große Problem. Denn sie haben häufig das Gefühl, sie würden die Gemeinde nicht brauchen, es fehlt heute das Solidaritätsgefühl. Erst wenn sie dann später selbst Kinder haben und deshalb die Dienstleistungen der Gemeinde beanspruchen wollen, findet hier ein Umdenken statt. Es ist heute eine große Herausforderung für Gemeindevorstände, die Jungen bei der Stange zu halten. An diesem Umstand haben wir, wie andere Gemeinden auch, schwer zu beißen.

Apropos »schwer zu beißen«. Die ICZ tat sich zuletzt eher schwer mit ihrem Restaurant – lange war es geschlossen, jetzt ist es unter dem Namen »Olive Garden« wieder geöffnet – wie läuft es denn?
Das Restaurant läuft ausgezeichnet und wird von Menschen aller Zürcher Gemeinden, aber auch Auswärtigen besucht. Dass es bloß einen Hechscher, den Koscher-Stempel, unseres eigenen Gemeinderabbiners hat und nicht mehr wie früher auch den einer der ultraorthodoxen Rabbiner, ist dabei kein Problem – wir brauchen keinen zusätzlichen. Dies war im Übrigen auch ein ausdrücklicher Wunsch unserer Gemeindemitglieder!

Sie teilen sich seit vier Jahren das Präsidium mit Shella Kertész. Wie sieht denn Ihre gemeinsame Zwischenbilanz aus?
Da Co-Präsidium hat sicher Vor- und Nachteile. Die Vorteile überwiegen aber meiner Meinung nach eindeutig. Die Führung der Gemeinde, also das Gemeindepräsidium, ist ein Ehrenamt. Der Zeitaufwand ist andererseits enorm hoch. Irgendwann wird auch hier ein Umdenken stattfinden müssen. Beim Co-Präsidium kann man sich die Arbeit wenigstens teilen, und wenn man Glück hat, kann man sich auch austauschen und ergänzen.

Mit dem Co-Präsidenten der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich sprach Peter Bollag.

Türkei

Berichte: Türkische Polizei verhaftet Mann, der Anschläge auf Juden plante

Der Tatverdächtige soll Befehle vom Islamischen Staat erhalten haben

 21.02.2025

London

Fasten und Beten gegen säkulare Bildung

Die ultraorthodoxe Gemeinde fürchtet die staatliche Kontrolle ihrer Schulen. Andere Juden finden gerade dies dringend nötig

von Daniel Zylbersztajn-Lewandowski  17.02.2025

Meinung

Wie das Ende eines Alptraums, der fünf Jahre gedauert hätte

Alon Ishay ist erleichtert, dass die Koalitionsgespräche der FPÖ vorerst gescheitert sind

von Alon Ishay  17.02.2025

USA

Die Hoffnung von San Francisco trägt Levi’s-Jeans

Dem beliebten Touristenziel geht es schlecht. Der Millionenerbe und Philanthrop Daniel Lurie soll es richten. Er ist der vierte jüdische Bürgermeister Westküstenmetropole

von Sarah Thalia Pines  16.02.2025

USA

Aus dem Schatten von Taylor Swift

Gracie Abramsʼ Stern scheint am Pophimmel gerade besonders hell. Das liegt nicht nur an ihrer besten Freundin

von Nicole Dreyfus  16.02.2025

Griechenland

Israelisches Paar in Athen angegriffen

Der Mann und die Frau sprachen auf der Straße Hebräisch – zwei arabischsprachige Männer attackierten sie mit einem Messer

 16.02.2025

Australien

Krankenpfleger drohen, israelische Patienten zu ermorden

Premierminister Anthony Albanese sagt, das Video sei »von Hass getrieben und widerlich.«

von Imanuel Marcus  14.02.2025

Polen

Ronald S. Lauder erhält Karski-Preis

Lauder wird für sein Engagement für die Erneuerung jüdischen Lebens in Polen und das Schoa-Gedenken geehrt

 13.02.2025

Künstliche Intelligenz

So Fake, aber so gut

Ein AI-generiertes, an den Antisemiten Kanye West adressiertes Video geht gerade viral. Und es ist eine Wohltat!

von Sophie Albers Ben Chamo  12.02.2025