Das Urteil kam zwar wenig überraschend, löste aber dennoch erneut Enttäuschung aus. Der belgische Verfassungsgerichtshof in Brüssel hat ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bestätigt, wonach es mit europäischem Recht vereinbar ist, das religiöse Schächten von Tieren ohne Betäubung einzuschränken oder ganz zu verbieten.
Das oberste belgische Gericht hatte 2018 den EuGH im Vorlageverfahren um Auslegungshilfe gebeten. Grund war eine Klage jüdischer und muslimischer Verbände, die sich gegen das von den beiden großen Regionen des Landes, Flandern und Wallonien, verhängte Schächtverbot zur Wehr gesetzt hatten.
Tierschutz Zur Überraschung vieler Beobachter urteilten die Luxemburger Richter im vergangenen Dezember, dass der Tierschutz Vorrang haben dürfe vor der Religionsfreiheit. Am Donnerstag wies das belgische Verfassungsgericht die Klage ab.
Die Region Flandern hatte 2014 beschlossen, auch das nach der Halacha, dem jüdischen Recht, vorgeschriebene Schlachten von Tieren ohne vorherige Betäubung zu untersagen. Das Verbot ist seit 2017 in Kraft. Auswirkungen hat es besonders in Antwerpen, wo rund 20.000 orthodoxe Juden leben.
Auch die südbelgische Region Wallonien fasste wenig später einen ähnlichen Beschluss. Nur in Brüssel ist bislang das Schlachten ohne Betäubung noch zulässig. Auch aus dem Ausland darf koscheres Fleisch eingeführt werden.
RELIGIONSFREIHEIT Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder, kritisierte das Urteil: Es sei »ein fortgesetztes Manöver, um die jüdischen und muslimischen Bürger Belgiens zu diskriminieren«. Durch das Verbot religiöser Schlachtungen ohne Betäubung habe der Gerichtshof der Europäischen Union »ein potenziell tödliches Hindernis für das weitere jüdische Gemeinschaftsleben in Europa gelegt«. Es gehe nicht um den Tierschutz, sondern um die Unterdrückung der Religionsfreiheit, die in Artikel 10 Absatz 1 der EU-Grundrechtecharta garantiert ist, so Lauder.
Da der Antisemitismus in Europa und auf der ganzen Welt immer weiter zunimmt, könne der Jüdische Weltkongress solche Fälle religiöser Verfolgung nicht unangefochten lassen. »Die Europäische Union muss diese unkluge Entscheidung rückgängig machen, damit Juden und andere Minderheitenreligionen ihren Glauben ohne Einschränkungen ausüben können.«
Der Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, Pinchas Goldschmidt, sagte in einer Stellungnahme, das Verbot stelle Belgien »leider auf eine Linie mit einigen anderen europäischen Ländern, deren Schächtverbote noch aus der Nazizeit stammen«.
Wenn man der jüdischen Gemeinde die Möglichkeit nehme, sich selbst zu versorgen, sende man eine klare Botschaft aus, welchen Stand Juden in Belgien hätten, so der Moskauer Oberrabbiner weiter. »Die Auswirkungen sind immens, und die Folgen führen für die jüdische Gemeinde in Belgien zu großen Nachteilen.«
DOMINOEFFEKTE Die Hoffnung auf eine Lockerung des Schächtverbots will Goldschmidt dennoch noch nicht ganz aufgeben. »Jetzt, nachdem das Gerichtsverfahren abgeschlossen ist, hoffen wir, dass die Mitglieder des belgischen Parlaments sinnvoll und konstruktiv mit den Religionsgemeinschaften des Landes zusammenarbeiten werden, in der Hoffnung, dass die Möglichkeit zum religiösen Schächten bald in ganz Belgien wieder legal wird«, erklärte er.
Die Konferenz der Europäischen Rabbiner befürchtet nach dem Urteil einen «Dominoeffekt». Sie glaubt, weitere Staaten könnten ebenfalls Verbote oder Einschränkungen erlassen, was die freie Religionsausübung weiter erschweren würde. mth