Am vorvergangenen Freitag feierten die Hillel-Studenten im kalifornischen Stanford ihren Kabbalat Schabbat nach langer Zeit wieder in Präsenz. Doch es war nicht nur das erste Treffen nach der Covid-bedingten Isolation. Es war auch der erste Gottesdienst nach der Geiselnahme in Colleyville.
»Anders als sonst, wenn wir uns in drei Gruppen – orthodox, konservativ und Reform – aufteilen, haben wir das Gebet als große Gemeinschaft begonnen«, erzählt Jessica Oleon Kirschner, seit vier Jahren Hillel-Rabbinerin an der Universität. »Es war sehr besonders. Es fühlte sich an wie eine gemeinsame Heiligung der Zeit.«
Und dennoch, sagt Kirschner, habe sie auch das andere Gefühl unter den Studierenden wahrgenommen. »Dieses Hin- und Hergerissensein«, wie sie es nennt. »Einerseits spürte man die Freude über das Zusammensein, doch mir sind auch die Blicke nicht entgangen, mit denen manche Teilnehmer ihr Umfeld abgecheckt haben. Wir saßen draußen, und natürlich sind wir da ungeschützter. Auf der anderen Seite können wir keine Festung um uns errichten. Und das wollen wir auch nicht.«
Nach der Geiselnahme in Texas debattieren US-amerikanische Gemeinden den Balanceakt zwischen Sicherheit und Offenheit wieder neu. Diverse gewalttätige antisemitische Attacken in den vergangenen Jahren haben den Alltag in vielen Synagogen ohnehin schon verändert.
KIDDUSCH Fremde, die früher überpünktlich nach dem Gottesdienst zum Kiddusch auftauchten, sich satt aßen und mit gefüllten Taschen wieder gingen, stoßen heute besonders in den großen Synagogen auf Hürden.
Der Geiselnehmer nutzte die Gastfreundschaft in der Synagoge aus und ließ sich mit Tee versorgen.
»Sie sind natürlich immer willkommen«, sagt der Rabbiner einer großen Reformgemeinde in San Francisco, »nur müssen sie jetzt durch die Schleuse und ihre Taschen durchsuchen lassen.« Sein modern-orthodoxer Kollege auf der anderen Seite der Bucht in Berkeley sieht die Gastfreundschaft seiner Gemeinde durch Sicherheitsmaßnahmen ebenfalls nicht notwendigerweise beeinträchtigt.
»Man muss es kommunizieren«, sagt Yonatan Cohen, dessen Synagoge eine nichtjüdische Nachbarin für ein Projekt als Ort nominierte, an dem sie »sich zu Hause« fühle, »weil sie jederzeit willkommen« sei. »Wenn Menschen das wissen«, sagt Cohen, der die Gemeinde seit 16 Jahren leitet, »wenn sie wissen, dass hinter den Mauern Juden ihre jüdischen Werte leben, interessieren sie sich dafür und nicht für den Sicherheitsmann am Eingang.«
Dass der Geiselnehmer in der Congregation Beth Israel in Colleyville ausgerechnet das mitfühlende Kümmern um die Zu-kurz-Gekommenen ausnutzte und sich mit heißem Tee habe versorgen lassen, um den Rabbiner und drei Gemeindemitglieder dann als Geisel zu nehmen, treibe sie um, sagte Angela Buchdahl am Schabbat in ihrer Predigt.
umwelt »Wenn Sie heute amerikanischer Jude sind und Sie sind nicht beunruhigt, machen Sie die Augen nicht auf.« Beunruhigt sein müssten Juden auch darüber, dass die Umwelt ein vollkommen simplifizierendes Verständnis von Antisemitismus habe.
Der Geiselnehmer, der eine Islamistin aus dem Gefängnis befreien wollte, verlangte während seiner Aktion, mit Buchdahl zu sprechen. Ihr Arbeitsplatz, die »Central Synagogue« in New York, hatte für ihn nach noch mehr Macht geklungen, als er den Juden ohnehin schon zuschrieb, von denen er annahm, sie könnten einfach schnell den Präsidenten anrufen, um mit ihm die Freilassung einer verurteilten Terroristin festzuklopfen. Dass nicht einmal der leitende FBI-Agent dieses uralte Stereotyp als antisemitisch eingeordnet habe, »das beunruhigt mich«, sagte die Rabbinerin.
Die jüdische Realität sei in den vergangenen Jahren eine andere geworden, pflichtet ihr Joseph Polak, Vorsitzender des Beit Din in Massachusetts, bei, auch, weil sich antisemitische Stereotype, wenn auch unbewusst wie bei dem FBI-Mitarbeiter, leichter festsetzen könnten.
»Dieses Land hat vergessen, wie man zwischen Wahrheit und falscher Information unterscheidet. Es gibt eine ständige Welle ungeprüfter Behauptungen, alternativer Fakten und Lügen. Alles als Tatsachen verkauft.«
Manche Juden tragen die Kippa nicht mehr in der Öffentlichkeit. Andere trainieren Krav Maga.
Auch wenn das nicht immer direkt mit Antisemitismus zu tun haben müsse, gedeihe der unter diesen Voraussetzungen prächtig. Mit unmittelbaren Folgen. So trägt Polak an öffentlichen Orten keine Kippa mehr. »Ich setze einen Hut auf, und meine Zizit stecke ich nun nach innen.«
Härter aber sei es für die Studierenden. 42 Jahre lang war er der überaus populäre Hillel-Rabbiner an der Boston University. »Die jungen Juden hatten die üblichen Studierenden-Sorgen. Heute müssen sie lernen, dass es den Antisemiten egal ist, wie progressiv und links sie sind.«
Den »Verlust der Unschuld« nennt das seine Kollegin Jessica Kirschner in Stanford. »Die Studierenden sind in einer jüdischen Idylle groß geworden. Wir dachten, all das Furchtbare, das woanders passiert, kann uns in Amerika nicht zustoßen. Auch ich bin so aufgewachsen«, sagt die 41-Jährige.
kampfsport Dass sie einmal den Gebrauch von Schusswaffen trainieren würde, hätte sie sich zu Beginn ihrer Karriere nicht vorstellen können. Und dass Krav Maga, eine vom israelischen Militär praktizierte Kampfsportart, einmal zu den Lieblingskursen ihrer Hillel-Studierenden zählen würde, genauso wenig.
Die Zeiten haben sich geändert. Die Juden vielleicht nicht so sehr. Sie nehmen die Herausforderung an. Oder, wie es der Rabbiner der Autorin während des Toralernens am vergangenen Samstag sagte: »Hey, wir werden weiterhin als selbstbewusste Juden auftreten.«
Er hält dabei seinen Kommentar hoch. »Ihr wisst ja, was wir im Training gelernt haben. Wenn wir nichts anderes haben als den Plaut(-Kommentar), muss der als Waffe reichen.« Aber erst einmal wird Tora daraus gelernt.