Frankreich

Dialog in schwierigen Zeiten

Am Dienstag wurde Priester Jacques Hamel beerdigt. Vor der Beisetzung im Familienkreis wurde der Sarg zur Trauerfeier in die Kathedrale von Rouen getragen. Foto: dpa

Es ist wie eine Selektion – das ist erschreckend»: Mit deutlichen Worten hat Frankreichs Oberrabbiner Haïm Korsia am Dienstag im französischen Rundfunk und per Twitter auf die Formulierung eines Aufrufs von Muslimen reagiert, die sich von islamistischen Terroranschlägen in Frankreich distanzierten, dabei aber nicht die jüdischen Opfer erwähnten.

Grundsätzlich allerdings begrüßte der Oberrabbiner die Erklärung muslimischer Unternehmer, Intellektueller und Politiker, die in der Sonntagzeitung JDD publiziert wurde. Die rund 40 Erstunterzeichner sprachen sich darin mehrere Tage nach dem blutigen Mord an einem Priester der Kirchengemeinde von Saint-Étienne-du-Rouvray in der Normandie für ein deutliches Vorgehen französischer Muslime gegen den Dschihadismus aus. Wörtlich hieß es: «Nach dem Mord an Karikaturisten, an jungen Konzertgästen, nach dem Mord an einem Polizistenehepaar und an Männern, Frauen und Kindern am Nationalfeiertag folgt nun der Mord an einem Priester, der die Messe feierte.»

Hyper Cacher Oberrabbiner Korsia sagte, er bedauere die Auslassung jüdischer Opfer in der Erklärung und sei geschockt darüber, dass die Unterzeichner, von denen er einige gut kenne, nicht auch an die Toten des Angriffs auf den Supermarkt Hyper Cacher in Paris erinnert haben. Der islamistische Terrorist Amedy Coulibaly hatte am 9. Januar 2015 in der Hyper Cacher-Filiale an der Porte de Vincennes vier jüdische Kunden erschossen, zwei Tage nach dem mörderischen Angriff auf die Mitarbeiter der Zeitschrift Charlie Hebdo.

Der Appell der Muslime hätte nach Meinung der führenden jüdischen Organisationen Frankreichs außerdem die Opfer des Mörders Mohammed Merah erwähnen sollen, der nach einer ersten Attacke auf Soldaten in Montauban am 19. März 2012 in einem zweiten Angriff in Toulouse auf die jüdische Schule Ozar Ha-Torah gezielt hatte. Dort kamen drei Kinder und ihr Lehrer ums Leben.

Auch der Zentralverband jüdischer Institutionen (CRIF) monierte, dass die acht Opfer der Attentate von Paris und Toulouse nicht ausdrücklich erwähnt wurden. Der Vorsitzende der Union der jüdischen Studenten (UEJF), Sacha Reingewirtz, betonte, er zweifle nicht an den guten Absichten der Unterzeichner, doch die Dimension des Judenhasses bei den Dschihadisten hätte stärker hervorgehoben werden müssen.

Die Abgeordnete Bariza Khiari, eine der Unterzeichnerinnen, erklärte, es bestehe Einigkeit darüber, «dass wir keinen Unterschied zwischen allen Opfern des Terrorismus machen». Oberrabbiner Korsia sagte dazu, er begrüße mehrere individuelle Reaktionen, die er erhalten habe, darunter die von Frau Khiari. «Aber ich habe am Sonntagabend mehrere der Unterzeichner angerufen, um ihnen die Verletzung mitzuteilen, die ich und die jüdische Gemeinde bei der Lektüre empfanden.»

Am vergangenen Freitag beteiligten sich jüdische Vertreter an einer Fastenaktion, die französische Bischöfe am Freitag zur Erinnerung an die Opfer der Kirche in Saint-Étienne-du-Rouvray ausgerufen hatten. Am 26. Juli hatten zwei junge Islamisten, von denen einer eine elektronische Fußfessel trug, dem 85 Jahre alten Priester Jacques Hamel die Kehle durchgeschnitten. Ein weiteres Opfer wurde bei der Geiselnahme, die mit dem Angriff einherging, lebensgefährlich verletzt.

Trauerfeier Am Wochenende nahmen Michaël Bitton, Rabbiner der nahegelegenen Stadt Rouen, und die muslimischen Vertreter Mohammed Karabila und Bacher El Sayadi an einer Gedenkfeier für Jacques Hamel teil. Jüdische und muslimische Vertreter kamen auch zur Trauerfeier in der Kathedrale von Rouen an diesem Dienstag. Anschließend wurde der Priester im Beisein seiner Familie an einem geheimen Ort beerdigt. Der Erzbischof von Rouen, Dominique Lebrun, rief Christen, Muslime und Juden zur Einheit auf. Er nannte die Anwesenheit von Vertretern der drei Weltreligionen in der Kathedrale ein Zeichen dafür, dass sich ein solches Attentat im Namen einer Religion nicht wiederholen dürfe.

Oberrabbiner Haïm Korsia hatte kurz nach dem Mordanschlag gesagt: «Es gibt keinen Krieg der Religionen, denn alle sind dazu da, Bindungen zwischen den Menschen zu schaffen.» In einem gemeinsamen Communiqué mit Joel Mergui, dem Präsidenten des Consistoire, das die meisten Synagogen und jüdischen Schulen in Frankreich verwaltet, erklärte Korsia: «Wir rufen die Regierung dringend auf, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um Bürgern Schutz und Sicherheit zu gewähren.»

Die jüdische Dachorganisation CRIF betonte, die Attacke bei Rouen zeige, dass Terroristen ihre Zielobjekte vervielfachen: «Diese Attacke ist eine neue Phase der terroristischen Expansion.» Beobachter glauben, dass der Angriff auf die Kirche und das Versprechen von Präsident François Hollande, alle französischen Kirchen zu beschützen, eine Umstrukturierung der Sicherheitskräfte mit sich bringen könnte. Derzeit sind Polizei und Armee massiv außerhalb von Synagogen und jüdischen Schulen stationiert. Unter Juden gibt es Befürchtungen, dass diese Wachleute in Zukunft womöglich woanders zum Einsatz kommen könnten.

Koexistenz Droht der Plan der Täter aufzugehen, Bevölkerungs- und Religionsgruppen dauerhaft gegeneinander aufzustacheln? Beobachter unterstrichen in französischen Medien, den Tätern und dem sogenannten Islamischen Staat (IS) gehe es darum, jegliche Koexistenz zwischen Menschen unterschiedlichen Glaubens unmöglich zu machen. Denn «diese Vorstellung ist ihnen unerträglich», wie etwa Madjid Zerrokuy in Le Monde formulierte. Der ermordete Priester Jacques Hamel hatte sich für interreligiöse Verständigung eingesetzt – eine Herausforderung, die in diesen Tagen nicht einfacher wird.

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