Die Geschichten, welche die gut 900 Mitglieder von Rabbinerin Minna Brombergs Facebook-Gruppe miteinander teilen, sind keine Wohlfühlgeschichten. Es sind erlebte und erlittene Geschichten.
Da ist die Frau, die als Letzte zu einem Sukkot-Dinner erscheint. Alle Stühle in der Sukka sind bereits besetzt, die Gastgeberin holt einen Gartenstuhl aus Holz, die Frau setzt sich darauf und bricht mit dem Stuhl zusammen. Da ist der junge Mann, der ein Fundraising-Event für seine Synagoge organisiert, aber in keines der T-Shirts passt, die die Mitarbeiter tragen sollen. Oder die Frau, die sich beschämt aus der Mikwe schleicht, weil die bereitgestellten Badetücher und Bademäntel zu klein für sie sind.
motivation Es sind Geschichten wie diese, die Minna Bromberg motiviert haben, Anfang 2020, unmittelbar vor Ausbruch der Corona-Pandemie, Fat Torah zu gründen. Die Online-Community bringt zwei Dinge zusammen, die nicht symbiotisch zusammengehen – scheinbar zumindest: jüdisch und dick zu sein.
Widerspricht das Feiern des »Fettseins« der Heiligkeit des Lebens?
Und das ist gleich das erste Missverständnis, mit dem Bromberg aufräumt. Die 48-Jährige wurde auf Long Island im US-Bundesstaat New York geboren. Es sei nicht leicht gewesen, »als schlaues, fettes, jüdisches Kind in einer kleinen Gemeinde« zu leben, sagt sie. Aber ihre jüdische Identität habe ihr früh geholfen zu verstehen, was es heiße, anders zu sein.
Bromberg studierte am Hebrew College nahe Boston im Bundesstaat Massachusetts, arbeitete einige Jahre als Gemeinderabbinerin in Pennsylvania und machte später mit ihrer Familie Alija. Heute lebt sie in Jerusalem – und engagiert sich seit einigen Jahren als »Fett-Aktivistin«.
mediziner Sie benutzt das Wort »fett« vorsätzlich, selbstbewusst und selbstverständlich. Anders als die Mediziner sagt sie nicht »fettleibig« oder »übergewichtig«, sie sagt nicht verniedlichend »pummelig« oder euphemistisch »kräftig«, »kurvig« oder »vollschlank«. Sie sagt: fett.
Bromberg sieht ihre Organisation als Teil der Body-Positivity-Bewegung. Die sei mehr als ein identitätspolitischer Trend. Die Bewegung habe ihre Wurzeln in den späten 60er-Jahren, in der Gründung der »National Association to Advance Fat Acceptance« in den USA – der Vereinigung zur Förderung von Fett-Akzeptanz.
»Zum einen beschreibt das Wort ›fett‹ am besten meine Körperform in der wunderbaren Vielfalt der menschlichen Rasse«, sagt Bromberg im Gespräch. Zum anderen werde das Wort »fett« traditionell als Schimpfwort gebraucht. Und sie habe sich zum Ziel gesetzt, das Wort zurückzuerobern, es wieder kultur- und salonfähig zu machen.
follower Die Facebook-Seite des Fat-Torah-Mottos »Diätkultur ist Götzendienst« hat mittlerweile über 2400 Follower. Bromberg gibt Online-Seminare zu den Themen Fat Shaming und Fett Stigma, sie spricht in Synagogen, jüdischen Gemeindezentren, Schulen und Studentenorganisationen, in den USA und Israel, in Großbritannien und den Ländern der früheren Sowjetunion – oder wo auch immer Fat Torah auf Interesse stößt.
Brombergs Konzept: Sie bindet ihren Fett-Aktivismus in den jüdischen kulturellen und spirituellen Kontext ein. So drehe sich vieles im jüdischen Leben um Essen, gutes, aber reichhaltiges, sprich: fettes Essen. Latkes, Kugel, Knishes oder Chremslach, Strudel oder Hamantaschen. Ein zentraler Wert des Judentums sei das Gefühl des Dazugehörens – vor allem an den Festtagen. Klagen über kalorienreiche Küche, Tipps für Diäten oder Komplimente an diejenigen, die abgenommen haben, seien kontraproduktiv für das Ziel inklusiver Gemeinschaften und beförderten Fett-Stigmata, betont Bromberg.
Die jüdische Tradition bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für Brombergs Kampf gegen das Fat Shaming. Chanukka zum Beispiel. »Da feiern wir Fett – als Symbol des Überlebens«, sagt Bromberg –, und zwar mit in Öl gebratenen und frittierten Speisen wie Latkes und Sufganiot. Doch die Verbindung von Fettleibigkeit und Judentum gehe tiefer, sagt sie weiter. Wie das Prinzip von »B’tzelem Elokim« – der Mensch, in Gottes Bild geschaffen. »Und das heißt: Alle Körper sind in Gottes Bild geschaffen, die dünnen und die dicken.«
AUSTAUSCH Dieses Argument überzeugt Kelly Kossar. Die 36-Jährige, die als jüdische Erzieherin in der Synagoge Temple Beth Shalom in Needham, Massachusetts, mit Vorschulkindern arbeitet, ist seit zwei Jahren Mitglied von Fat Torah. »Fett und Tora – das ging für mich bislang nicht zusammen«, sagt sie. Und sie habe auch noch nie erlebt, dass Übergewicht im jüdischen Kontext positiv diskutiert werde.
Doch der Austausch in der Fat-Torah-Community habe ihr geholfen, eine bessere und gelassenere Kindergärtnerin zu sein, sagt Kossar. Immer wieder erlebt sie, dass Vorschulkinder über Körper und Körperformen sprechen, »nicht in einer gemeinen Weise. Aber es ist ein Thema«. Und immer wieder fragen die Kinder Kossar, ob sie schwanger sei. »Früher war ich gekränkt und habe mich geschämt. Heute sehe ich das als gute Gelegenheit, zu erklären, dass es Körper in allen möglichen Formen gibt, dass wir eben verschieden sind.«
Auch Kossar hat Erfahrung mit Fat Shaming gemacht, mit Diskriminierung von Dicken. Zum Beispiel bei ihrem Hausarzt. Als sie zum ersten Mal in dessen Praxis kam, reichte ihr eine Arzthelferin einen Flyer mit Informationen zur Magenverkleinerung. »Das war schon sehr direkt«, sagt Kossar.
gegenwind Tatsächlich sind es Mediziner, von denen Fett-Aktivisten den größten Gegenwind bekommen. Nach Angaben der US-Gesundheitsbehörde CDC leiden mehr als ein Drittel der Amerikaner unter extremem Übergewicht – und haben damit ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfälle, Diabetes Typ 2 und bestimmte Krebsarten. Fettleibigkeit gehört zu den häufigsten Todesursachen in den USA. Die geschätzten Kosten der Fettleibigkeit für das Gesundheitssystem schätzt die CDC auf 173 Milliarden Dollar.
Minna Bromberg wählt bewusst das Wort »fett« statt »vollschlank« oder »pummelig«.
»Ich bin 100-prozentig dagegen, die Körper der Menschen zu bewerten«, sagte Robert Ziltzer, jüdischer Arzt mit Schwerpunkt auf Gewichtsmanagement in Phoenix im Bundesstaat Arizona, der Lokalzeitung »Jewish News«. »Aber ich bin auch ein Anwalt für gesundes Leben. Und es ist nicht gesund, mit chronisch hohem Blutdruck herumzulaufen.«
Widerspricht das Feiern des Fettseins also der Heiligkeit des Lebens, einem der höchsten Werte der jüdischen Medizinethik? Keinesfalls, findet Minna Bromberg. »Gesundheit ist ein komplexes Konzept. Es schließt körperliche, mentale und spirituelle Gesundheit ein.«
Und sie fügt hinzu: Selbst wenn man Fettsein als Krankheit definiere, liege es in der jüdischen Tradition, sich um Kranke zu kümmern, ihnen Mitgefühl und Respekt entgegenzubringen. »Das ist eine Form von Tikkun Olam«, sagt sie – ein Beitrag dazu, die Welt zu verbessern.