In einem Ausstellungsraum des British Museum klettert Ende der 50er-Jahre ein begeistertes Mädchen auf die riesigen uralten Figuren der assyrischen Sammlung. So muss es gewesen sein, damals, als Julia Neuberger noch ihren Mädchennamen Schwab trug und von Richard Barnett, einem Freund ihrer Eltern, der für die assyrische Sammlung verantwortlich war, häufig ins Museum mitgenommen wurde.
Erinnerungen Dies und englische Übersetzungen von Erich Kästners Büchern gehören zu den Kindheitserinnerungen der bekannten britischen Rabbinerin, die an diesem Donnerstag 70 wird. Weder ihre Kleidung noch ihre aufgeweckt lebendige Art, mit der sie fast ununterbrochen begeistert erzählt, lassen ihr Alter auch nur erahnen.
Als junge Frau wollte sie Lehrerin oder Archäologin werden.
Zum Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen empfängt sie in der neobyzantinischen West London Reformed Synagogue, wo sie seit neun Jahren amtiert. Im März will sie in den Ruhestand gehen. Ihre Ankündigung löste in der Gemeinde einen großen Streit über ihre Nachfolge aus, doch das ist nicht mehr ihr Problem. Sie sei froh, gesteht sie, bald die Wochenenden frei zu haben, um endlich Zeit mit ihren beiden Enkeln zu verbringen.
Im Laufe mehrerer Jahrzehnte hat sich Neuberger einen Namen in Fragen des menschenwürdigen Altwerdens, des Sterbens, aber auch der Embryologie gemacht.
Ihre Ideen und Empfehlungen galten immer anderen. Heute jedoch geht es für sie darum, selbst fit zu bleiben, Freundschaften zu pflegen oder zu versuchen, neue Bekanntschaften mit jüngeren Menschen aufzubauen und weiterhin aktiv zu sein.
Letzteres nimmt Neuberger besonders ernst. So ist sie bereits seit einigen Jahren Vorsitzende eines der größten Universitätskrankenhäuser Londons und beabsichtigt, Vorstandsmitglied einer weiteren Londoner Klinik zu werden.
Verschiedene Ämter auszuüben, ist für Neuberger nichts Neues. So sitzt sie seit 2004 im House of Lords. Dort gehörte sie zunächst der Fraktion der Liberal Democrats an und war mehrere Jahre lang deren Sprecherin für Gesundheitspolitik.
Cambridge Als junge Frau hatte Neuberger zuerst den Wunsch, Lehrerin zu werden. Später interessierte sie sich dann mehr für Archäologie. »Ich wollte verstehen, wie sich die alte assyrische Kultur im Judentum und im Islam wiederfindet«, erzählt sie. Inspiration gaben ihr die vielen Besuche im British Museum. Und so sitzt sie bald – als einzige Frau ihres Jahrgangs – in den Archäologievorlesungen an der Cambridge University.
Doch dann erfährt sie, dass ihr als Britin die Einreise in die Türkei und als Jüdin in den Irak nicht gestattet wird. Neuberger stellt sich, wie sie sagt, auf eine trockene akademische Karriere ein. Doch dann kommt ein neuer jüdischer Dozent, Nicholas de Lange, bei dem sie mittelalterliches Judentum studiert, auf die Idee, sie könne Rabbinerin werden. Und so sitzt sie schon bald in Vorlesungen am Leo Baeck College, dem Londoner Rabbinerseminar des progressiven Judentums.
»Im College akzeptierte man Frauen zwar im Kurs, doch wollte man nicht wahrhaben, dass sie bald auch jüdische Gemeinden führen sollten«, erinnert sie sich.
Trotzdem wird sie die zweite Rabbinerin des Landes und amtiert zwölf Jahre lang in der liberalen Synagoge Südlondons.
Mit ihrem Ehemann Anthony, einem Professor für Finanzen, zieht sie zwei Kinder groß. Doch der Rabbinerin reicht das nicht. »Ich hörte mich immer wieder dieselben Sachen in der Synagoge wiederholen, und das war weder für mich noch für die Gemeinde gut«, erzählt sie.
Ethik Schockierende Erfahrungen in Krankenhäusern und in der Pflege von Mitgliedern ihrer Gemeinde lassen sie zunehmend über ethische Fragen in der Fürsorge und medizinischen Betreuung anderer nachdenken.
Das Buch Menschen als Versuchskaninchen von Maurice Pappworth überzeugt sie schließlich, diesem Thema weiter nachzugehen. Sie schreibt erste eigene Bücher über das Sterben und die Pflege. In den USA beobachtet sie bei einem Lehrstipendiat an der Harvard Medical School Ärzteausbildungen, die Wert auf die Perspektiven der Patienten und ihrer Familien legten. Und es ist Neuberger, die diese Einsichten nach Großbritannien bringt.
Ab 1997 ist sie Geschäftsführerin des Kings Fund, einer der wichtigsten britischen Denkfabriken in Gesundheits- und medizinischen Fragen. Dies gibt ihren Ideen, Medizin und Pflegesektor menschlicher zu machen, weiteren Einfluss.
Im Jahr 2003 ernennt die Queen sie völlig unerwartet zur Dame, und ein Jahr später wird sie Baronin. Damit erhält sie einen Sitz im House of Lords. Unter Premierminister Gordon Brown wird sie Beraterin der Labourregierung.
Nach dem Brexit-Votum beantragte sie einen deutschen Pass.
Weiteren Einfluss hat Baroness Neuberger im Bereich der Freiwilligenarbeit und Flüchtlingsfürsorge. Für Letzteres gibt es seit einigen Jahren auch eine eigene Stiftung, die die Namen ihrer Eltern trägt. Neubergers Mutter, Liesel Schwab, war in der Nazizeit selbst aus Deutschland geflüchtet. Der Vater stammt aus einer deutsch-jüdischen Familie, die eine Generation früher auswanderte.
flüchtlinge Es überrascht nicht, dass Neuberger nach dem Brexit-Votum 2016 die deutsche Staatsbürgerschaft beantragte. Aufgrund bürokratischer Hürden erhielt sie sie jedoch erst im vergangenen Jahr. Neuberger spricht vor allem mit Dankbarkeit von ihren Begegnungen mit Deutschen, etwa mit dem Oberbürgermeister von Heilbronn, Harry Mergel, der sich um die Aufarbeitung der Geschichte der Familie ihrer Mutter sorgte. Neuberger, die lebenslange Studentin moralischer Fragen, nennt Bundespräsident Steinmeier und Bundeskanzlerin Merkel »hochmoralische Personen«, ja, sie bewundere Merkel für ihre Flüchtlingspolitik, sagt sie.
Über das Wachsen der AfD sei sie sich bewusst, sagt Neuberger, rechter Rassismus und Antisemitismus seien ein Problem – doch nichts habe sie mehr erzürnt als die Zunahme des linken Antisemitismus. Dass er sich in Großbritannien ausgerechnet in der Labourpartei ausbreitete, machte sie fassungslos und führte im vergangenen Jahr zu ihrem bislang letzten Buch.
Sie versucht darin, dagegen anzuschreiben. Seit der Veröffentlichung tourt sie durch Großbritannien und hält anhand des Buches Vorträge über das Thema.
»You can have it all« (Du kannst alles haben) schrieb Neuberger in einem anderen Buch, in dem erfolgreiche Frauen über ihre Karrieren schreiben. Rückblickend glaubt sie, dies getan zu haben. Und wer weiß, was bis 120 noch dazukommt.