Das liberale Judentum entspricht meiner Einstellung zum Leben, meinen Werten. Das Entscheidende ist die Gleichstellung von Männern und Frauen. In einer Welt, in der die Gleichstellung so zentral ist, sehe ich nicht ein, warum es gerade in der Religion anders sein soll», sagt Eric Frey, Textchef bei der österreichischen Tageszeitung «Der Standard», der im vergangenen Sommer zum Präsidenten der liberalen Gemeinde Or Chadasch (Neues Licht) in Wien gewählt wurde.
Aufgewachsen ist der 58-Jährige in einer, wie er sagt, «normalen Wiener jüdischen Familie». Seine Mutter stammt aus einem frommen Haus in Mattersburg im Burgenland. Ihr Vater war ein Schomer Schabbat, die Großmutter kam aus einer traditionellen, nicht so religiösen Familie. Freys Vater hingegen wuchs in einer sehr assimilierten jüdischen Budapester Familie auf.
Gründung Vor dem Krieg habe es in Wien, anders als in Berlin und Budapest, keine liberale Gemeinde gegeben, erzählt Eric Frey. Die Kultusgemeinde (IKG) sei damals recht liberal gewesen.
Als sich 1990 Or Chadasch gründete, wurden seine Eltern Mitglieder. «Meiner Mutter war Religion wichtiger als meinem Vater. Sie hat aber nicht eingesehen, warum sie im Stadttempel oben bei den Frauen sitzen muss, und mein Vater war froh, wenn seine Frau neben ihm saß.»
»Es ist nie ganz unpolitisch in Wien, Jude zu sein.«
Eric Frey
Zwischen 1981 und 1986 studierte Eric Frey in Princeton Internationale Beziehungen und lebte dann bis 1990 in Frankfurt am Main. In den Vereinigten Staaten und in jüdischen Gottesdiensten auf der amerikanischen Militärbasis in Frankfurt lernte er liberales Judentum kennen und schätzen.
orthodoxie Nach einer einjährigen Weltreise kam er mit seiner jetzigen Frau, die inzwischen in den USA zum Judentum übergetreten war, nach Wien zurück. Obwohl er bis heute Mitglied der IKG ist, war ihm und seiner Frau bald klar, dass sie zu Or Chadasch gehören.
«In der Orthodoxie herrscht ein religiöser Anspruch, den Juden wie ich, die eher säkular und modern-traditionell aufgewachsen sind, nicht erfüllen können und wollen», sagt Frey. In der Orthodoxie fühle er sich «wie ein Jude zweiter Klasse» und laufe «immer mit einem schlechten Gewissen» herum. Dies wolle er nicht.
Nach dem Tod seines Vaters vor 13 Jahren nahm Frey dessen Platz im Vorstand der Gemeinde ein. Er engagierte sich relativ wenig, um einen Interessenkonflikt mit seiner Anstellung beim «Standard» zu vermeiden. Schließlich sei es nie ganz unpolitisch in Wien, Jude zu sein, sagt er. Doch nachdem es einige Änderungen in seiner Arbeit gab, und vor allem, nachdem es zu Unmut und Konflikten in der Gemeinde kam, wurde er aktiver.
Konflikte Bis 2017 hatte Or Chadasch immer Rabbiner, die lediglich nach Wien anreisten und nicht dauerhaft in der Stadt lebten. Nach langer Suche entschied sich die Gemeinde vor vier Jahren für Rabbiner Lior Bar-Ami, der seine Smicha am Potsdamer Abraham Geiger Kolleg erhalten hatte.
«Ein hochgebildeter, interessanter, charismatischer, sehr progressiver Rabbiner. Er ist homosexuell, lebt vegan und legt extrem viel Wert auf Menschenrechte», erzählt Frey. Doch seine Lebensweise habe manche in der Gemeinde «irritiert und gestört». Daraus seien dann Konflikte entstanden, «und es schaukelte sich hoch».
Allerlei Kummer kam plötzlich aufs Tapet. Da es von Anfang an etliche LGBT-Gemeindemitglieder gab, war vor 22 Jahren ein «Erev Pride Tag» eingeführt worden, der zuerst umstritten, doch dann akzeptiert war. «Aber es macht eben einen Unterschied, ob man einmal im Jahr einen ›Erev Pride Tag‹ veranstaltet oder einen Rabbiner hat, der sagt: ›Das ist ein Teil meiner Selbst.‹»
konfliktstoff Für weiteren Konfliktstoff in der Gemeinde sorgten politische Themen. Frey erzählt, dass es unter den rund 120 Mitgliedern auch zu Diskussionen über Israel gekommen sei. Einige Jüngere hätten eine kritischere Haltung zur Politik Jerusalems als manche Ältere.
Für die vorgezogene Vorstandswahl hatten sich dann zwei Teams gebildet. Das eine, dem auch Eric Frey angehörte, sagte: «Wir schätzen diesen Rabbiner, wollen mit ihm arbeiten und glauben auch, dass es die richtige Richtung ist.» Das zweite Team war der Meinung, der Rabbiner könne zwar bleiben, er müsse sich aber ändern.
Für weiteren Konfliktstoff in der Gemeinde sorgten politische Themen.
Das erste Team gewann die Wahl, und Eric Frey wurde vergangenen Sommer zum neuen Gemeindepräsidenten gewählt. Er sieht es als seine wichtigste Aufgabe, den Konflikt zu lösen. «Wir müssen einander achten, zuhören und Platz schaffen für Diversitäten. Trotzdem muss klar sein, dass wir den Rabbiner akzeptieren. Ich bin zuversichtlich, ich habe gesehen, dass ich ausgleichen kann.»
Familie Besonders erfreulich findet Frey den «ganz anderen» Weg, den seine Tochter Isabel gefunden hat, er zeige die Vielfalt jüdischer Identität, die ihm auch bei seiner Arbeit so am Herzen liege. Isabel, die sich als linke Aktivistin bezeichnet, entdeckte für sich Revolutionsmusik und jiddische Protestlieder, mit denen sie auftritt.
Sie gehört einer Strömung an, die sich als «Millennial Bundists» bezeichnet, in Anlehnung an die Bundisten, die Jiddisch sprachen und Anfang des 20. Jahrhunderts für eine national-kulturelle Autonomie in Osteuropa eintraten.
Diese Idee spricht auch Eric Frey an. «Die bundistische Tradition verkörpert viel von dem, was ich bin: ein linker jüdischer ›Hiesiger‹ – ein Dasein in der Diaspora, keine Ablehnung und keine Umarmung des Zionismus.» Säkulare Juden in Europa hätten ja gleich zwei schlechte Gewissen: «Wir sind nicht nur nicht religiös genug, sondern wir leben auch nicht in Israel – da läuft man immer gebeugt herum, ich will aber aufrecht gehen.»
Sein Schlussplädoyer: «Das Judentum, das wir hier leben, ist vollständig und gleichwertig.»