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Der Vater des »Freedom Seder«

Für den Bürgerrechtler Rabbi Arthur Waskow ist Pessach ein Aufruf zum Handeln

von Jessica Donath  25.03.2021 09:18 Uhr

Bürgerrechtler, Umweltaktivist, promovierter Historiker und Rabbiner: Arthur Waskow Foto: 2010 AFP

Für den Bürgerrechtler Rabbi Arthur Waskow ist Pessach ein Aufruf zum Handeln

von Jessica Donath  25.03.2021 09:18 Uhr

In Vorbereitung auf die Amtseinführung von Joe Biden als Präsident am 20. Januar marschierten in Washington bewaffnete Soldaten auf – für viele Amerikaner ein ungewohnter Anblick. Nicht so für Rabbi Arthur Waskow. Der heute 87-Jährige wohnte in Washington, als Anfang April 1968 der Bürgerrechtler Martin Luther King ermordet wurde.

Aus Angst vor Ausschreitungen verhängte der damalige Präsident Johnson eine Woche nach dem Attentat eine Ausgangssperre über die Stadt. Panzer patrouillieren auf der Straße. Einer richtete sein Rohr auf Waskows Wohnblock.

Wie in jedem Frühjahr bereitete sich Waskow auf den Pessach-Seder vor, die einzige religiöse Handlung, die ihm damals etwas bedeutete. »Mein Inneres fing an zu schreien: ›Das ist Pharaos Armee! Du willst den Seder feiern, während Pharaos Armee auf den Straßen marschiert!‹«, erinnert er sich.

Haggada Dieses dramatische Ereignis veränderte Waskows Verhältnis zum Judentum: Plötzlich sah er den traditionellen Text der Haggada, der Menschen dazu auffordert, sich so zu verhalten, als wären sie selbst aus der Versklavung in Ägypten ausgezogen, mit anderen Augen. »Seit ich mit sechs Jahren lesen lernte, habe ich diese Zeilen jedes Jahr rezitiert. Die Worte haben mir nie etwas bedeutet. In diesem Jahr bedeuteten sie mir alles«, sagt er heute.

Aus diesem Erlebnis erwuchs Waskows wichtigstes Buch: The Freedom Seder (Der Freiheits-Seder). Im Herbst desselben Jahres verwob er Ideen aus den Schriften von Martin Luther King und Gandhi mit Beschreibungen des Aufstands im Warschauer Ghetto und der Haggada zu etwas Neuem. »Es fühlte sich an, als würde nicht ich das Buch, sondern das Buch mich
schreiben«, erinnert er sich.

Im folgenden Jahr trat eine Gruppe junger jüdischer Aktivisten an ihn heran. Sie sagten: »Es ist ja toll, dass du eine neue Haggada geschrieben hast – aber was ist eine Haggada ohne Seder?«

mitstreiter Waskow und seine Mitstreiter taten sich mit einem befreundeten schwarzen Pfarrer zusammen. An Kings erstem Todestag Anfang April 1969 versammelten sich 800 Menschen im Keller des Lincoln Temple in Washington zum Freedom Seder: Die Veranstaltung prägte das Verhältnis von Aktivismus zur Religion für Generationen.

»Es war weniger der Inhalt als die Tatsache, dass Arthur dieses symbolträchtige Ritual des Seders so verändert hat, dass es Widerhall findet in anderen Kulturen«, sagt Rabbi Laura Geller.

Die seit einigen Jahren emeritierte Rabbinerin von Temple Emanuel in Beverly Hills saß 1995 im Beit Din, dem Rabbinatsgericht, das aus dem Bürgerrechtler Arthur Waskow, dem »Seder-Juden«, als der er sich selbst sah, einen Rabbiner machte. »Rabbiner oder nicht – Arthur spielte, seit ich denken kann, eine wichtige Rolle in der jüdisch-progressiven Gemeinschaft«, sagt die Rabbinerin.

Der Anstoß, das Rabbinat anzustreben, kam von seinem Freund und Lehrer, Rabbi Zalman Schachter-Shalomi, während sie ihre allwöchentlichen Runden auf dem Sportplatz einer benachbarten Schule in Philadelphia drehten. Schachter-Shalomi sagte zu Waskow auf Jiddisch: »Du bist ein Dieb! Du beraubst mich der Erfahrung, dich zum Rabbiner zu machen.«

Herkunft Waskow wuchs in Baltimore auf, einer Hochburg der Arbeiterbewegung. Sein Vater war Mitbegründer einer einflussreichen Lehrergewerkschaft. Religion spielte in der Familie kaum eine Rolle. »Mein Vater und meine Mutter waren säkular, schickten mich aber in die Sonntagsschule und zur Barmizwa«, erinnert er sich. Trotz des distanzierten Verhältnisses der Eltern zum organisierten Judentum gab es an Pessach einen Seder auf Englisch. »Das nahmen sie sehr ernst, weil es dabei um Freiheit und Gleichberechtigung ging«, sagt Waskow.

Früher kämpfte er für die Abrüstung, heute gegen den Klimawandel.

In der letzten Phase des Kalten Krieges, 1983, gründete Waskow das Shalom Center als Antwort auf einen Brief der katholischen Bischöfe, die sich gegen das Wettrüsten aussprachen.

»Wir haben ja keinen Papst, und deshalb wusste niemand, was die Juden denken«, sagt Waskow. Nach dem Ende des Kalten Krieges verlagerte die Einrichtung ihre Aufmerksamkeit von der Abrüstung auf den Klimawandel, den ihr Gründer als mindestens ebenso bedrohlich empfindet wie das damalige Wettrüsten.

rolle Wie der Freedom Seder Waskows Verständnis seiner Rolle in der Welt veränderte, so krempelte ein von ihm geleitetes Seminar über den Religionsphilosophen Martin Buber am Swarthmore College 1982/83 seine Auslegung des Gottesbegriffs grundlegend um.

Mit seinen Studenten versuchte der promovierte Historiker, die hebräischen Buchstaben Jud, He, Waw, He, die einen der Namen Gottes buchstabieren, auszusprechen. Es entstand ein Geräusch, das mehr einem Atemzug glich, als einem Wort.

»Es machte shhhshhh, wie Ausatmen, und ich dachte, das macht Sinn. Der Name Gottes sollte universell sein und in jeder Sprache verstanden werden. Das Einzige, was es in jeder Sprache gibt, ist Atmen«, sagt Waskow. »Ein Atemzug ist eine wunderbare Metapher für Gott.«

In seinem neuesten Buch, Dancing in God’s Earthquake, seinem dreißigsten, wid­met er ein Kapitel diesem Thema des Ruach HaOlam, dem Atem der Welt. »Das Besondere an Arthur ist, dass er nicht nur wunderbare Ideen hat, sondern seine Leser dazu einlädt, sie gemeinsam mit ihm in die Tat umzusetzen«, sagt Rabbi Laura Geller.

Verhaftung Der zweifache Vater und fünffache Großvater wurde mehr als 25-mal wegen zivilen Ungehorsams verhaftet – das letzte Mal 2018, als er gegen die schlechte Behandlung lateinamerikanischer Flüchtlinge an der mexikanisch-amerikanischen Grenze protestierte.

In letzter Zeit musste er sich wegen der Coronavirus-Pandemie zurückhalten. Er nahm nur an zwei Kundgebungen teil, als im Sommer, nach dem Mord an dem Schwarzen George Floyd, eine Welle von Demonstrationen über das Land schwappte.

»Ich hasse das«, sagt er, »aber es gibt noch einige Dinge, die ich tun möchte.« Er wolle bis mindestens einen Monat nach seinem 91. Geburtstag am 12. Oktober 2024 leben. »Dann kann ich an der nächsten Präsidentschaftswahl teilnehmen.« Außerdem sei für einen spät berufenen Rabbiner 91, also siebenmal 13, ein schönes Alter.

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