Sport

Der Überflieger

Ende April bei den Turn-Europameisterschaften in Rimini: Artem Dolgopyat (27) bei der Bodenkür Foto: picture alliance / ipa-agency

Der Weltmeister reist ohne WM-Gold nach Paris. Denn die Medaille, die der israelische Turner Artem Dolgopyat 2023 in Antwerpen gewonnen hat und ihn als Favoriten zu den Olympischen Spielen nach Paris kommen lässt, hat er versteigert.

Ausgerechnet am 7. Oktober 2023 erkämpfte sich der mittlerweile 27-jährige Dolgopyat seinen Weltmeistertitel im Bodenturnen. Von dem, was an diesem Tag in seiner Heimat geschah, erfuhr er aber schon vor seiner Kür. »Ich habe mein Handy ausgemacht«, berichtet er. Nur so konnte er sich auf seine Übung konzentrieren.

Im blau-weißen Dress lieferte er seine Kür ab. Und wer sich die vielen Bodenübungen noch einmal genau anschaut, kann Dolgopyat die ungeheure Konzentrationsleistung, die er an diesem Tag erbringen musste, ansehen. Nicht jeder Stand war perfekt, aber er sammelte sich ganz schnell – auch als es einmal schien, dass er auf einem Bein umzukippen drohte. Die »Ahs« und »Ohs« des fachkundigen belgischen Publikums begleiteten seinen Auftritt, und am Ende erntete er frenetischen Jubel.

Zur Siegerehrung am 7. Oktober schritt er mit der Flagge Israels

»Es ist wohl der glücklichste Tag für mich und wohl auch für mein Land. Aber er ist es nicht«, sagte Dolgopyat dort mit ernstem, ja, traurigem Gesicht. Zur Siegerehrung schritt er mit der Flagge Israels, wobei Dolgopyat selbst einen Trauerflor trug. »Ich möchte allen Kraft, Umarmungen und Gesundheit schicken«, sagte Dolgopyat. Nach Israel zurückreisen konnte er zunächst nicht. Die allermeisten Flüge waren unmittelbar nach dem 7. Oktober gestrichen worden.

Der Deutsche Turner-Bund bot ihm und dem gesamten israelischen Team nicht nur eine Unterkunft, sondern auch Trainingsmöglichkeiten. Später reifte der Entschluss, die Medaille zu versteigern. »Dieser Tag war sehr schwierig für mich«, erinnert sich Dolgopyat. »Was kann mir ein Weltmeistertitel bedeuten, wenn mein Land verletzt ist.« Der Erlös aus der Versteigerung der Medaille ging an Menschen, die in Israels Süden nahe dem Gazastreifen leben, also an diejenigen, die vom Hamas-Terror am stärksten bedroht sind.

Geboren wurde Artem Dolgopyat 1997 in Dnipropetrowsk in der Ukraine. Dennoch betont er stets: »Der Staat Israel steht für mich an erster Stelle.« Es ist das Turnen, das dafür sorgte, dass man dem jungen Mann in Israel mit Respekt begegnete. Erst sein Sport machte Artem Dolgopyat zum Israeli.

Im Alter von sechs Jahren hatte er in Dnipropetrowsk mit dem Turnen angefangen

Eingewandert ist er 2009 als Zwölfjähriger zusammen mit seinen Eltern und seinem Bruder, denen die ökonomischen Verhältnisse in der Ukraine zu aussichtslos schienen. Schon im Alter von sechs Jahren hatte er in Dnipropetrowsk mit dem Sport angefangen. In Israel, wo sich die Familie in Rischon LeZion niederließ, machte er damit weiter. Schon sein Vater war Turner.

In der neuen Heimat trainierte Artem Dolgopyat bei Maccabi Tel Aviv. Als er sich vor 13 Jahren in einem Trainingslager ein Bein brach, sorgte der Verein für eine ausreichende Reha-Zeit des Talents. Seine Schulausbildung konnte Dolgopyat nicht abschließen: Hebräisch war ihm zu schwer und das Training zu intensiv. Während seiner Militärzeit konnte er aber weiter trainieren. 2015 machte er international erstmals durch Siege bei der World-Tour der Turner auf sich aufmerksam.

Schon sein Vater war Turner. In Israel trainierte Dolgopyat bei Maccabi Tel Aviv.

Sein ganz persönlicher Durchbruch kam 2015. In diesem Jahr sollte Dolgopyat erstmals israelischer Meister werden, und das hieß für ihn auch: Zum ersten Mal hatte er Alexander Shtilov besiegt – ausgerechnet beim Bodenturnen. Der hatte schon zweimal WM-Bronze gewonnen und war 2013 sogar Europameister geworden. Der zehn Jahre ältere Shtilov war Dolgopyats Vorbild und Idol, und plötzlich war er eben Dolgopyats Vorgänger als bester Turner Israels.

2017 kam der erste von vielen Triumphen: Silber bei der WM in Montreal

An den Olympischen Sommerspielen 2016 in Rio de Janeiro nahm Dolgopyat noch nicht teil. Aber 2017 kam der erste von vielen noch darauffolgenden Triumphen: Silber bei der Weltmeisterschaft in Montreal. Bei der Europameisterschaft im rumänischen Cluj im selben Jahr wurde er Vierter.

Artem Dolgopyat gehörte nun zur Weltspitze seiner Sportart, und genau das brachte ihm Anerkennung und Respekt in Israel ein. 2017 fand auch die Makkabiade statt. Dort holte er Gold am Boden und auf dem Pferd. Dazu noch eine Bronzemedaille im Sprung, womit so ganz nebenbei das hohe Niveau der Makkabiade bewiesen wurde. Sogar zum »Sportler des Jahres« wurde Dolgopyat am Ende des Jahres 2017.

Immer wieder warfen ihn Verletzungen zurück. Aber Dolgopyat, dem Trainer und Mitturner einen enormen Fleiß und eine unglaubliche Disziplin nachsagen, kämpfte sich immer wieder nach vorn. 2021 beim Turn-Weltcup in Doha konnte er gewinnen, ebenso ein Jahr später in Kairo. Dass ein Israeli das ausgerechnet in Katar und in Ägypten schaffte, sollte ihn und das Land mit Stolz erfüllen.

Der erste israelische Turnolympiasieger

Als Favorit reiste Dolgopyat im Sommer 2021 nach Tokio, wo die um ein Jahr verschobenen Olympischen Sommerspiele stattfanden. Es wurde sein bislang größter Triumph. Gold im Bodenturnen. Der erste israelische Turnolympiasieger und überhaupt erst der zweite Olympiasieger in der Geschichte des jüdischen Staates.

Wie immer in seinem bisherigen Leben musste sich Dolgopyat durchkämpfen, um den Sieg zu erreichen: In seinem Finale kam er auf 14.933 Punkte, die gleiche Zahl wie ein spanischer Turner. Weil der Israeli aber die höheren Schwierigkeitsgrade gewählt hatte, bekam er letztendlich die Gold-Medaille zugesprochen.

Das kleine Land rastete aus. Israels damaliger Premierminister Naftali Bennett unterbrach die Kabinettssitzung, um telefonisch zu gratulieren, im Hintergrund hörte Dolgopyat die Minister klatschen. Staatspräsident Isaac Herzog rief ihn persönlich an: »Artem, du hast Geschichte geschrieben. Ist dir klar, dass du die Nummer eins der Welt bist? Wir sind sehr gerührt. Ich gratuliere dir von ganzem Herzen und im Namen aller Israelis.« Auch die Schauspielerin Gal Gadot soll sofort gratuliert haben.

Auch Gal Gadot soll sofort gratuliert haben

»Seitdem kennen mich viele Menschen in Israel«, sagt Artem Dolgopyat. Menschen auf der Straße sprechen ihn an, bitten ihn um ein Selfie. Er will sich aber nicht davon ablenken lassen. »Wenn ich gute Leistungen bringe und Medaillen gewinne, sehen das die Menschen zu Hause. Ich hoffe, das gibt ihnen ein gutes Gefühl.«

Der Olympiasieg brachte allerdings zutage, warum Artem Dolgopyat immer wieder um Anerkennung und Respekt kämpfen muss, auch in Israel. Seine Mutter, Angela Bilan, nutzte ein Interview, um auf ein Problem hinzuweisen, das die Familie hat. »Der Staat erlaubt ihm nicht zu heiraten. Er hat eine Freundin, und sie leben seit drei Jahren zusammen, aber er darf nicht heiraten.« Mutter Angela ist nicht jüdisch, sondern nur der Vater. Für Artem heißt das: Halachisch ist er kein Jude. Und da es in Israel keine Zivilehe gibt, lässt ihn das Oberrabbinat nicht heiraten. Das ist ein Problem, vor dem viele Menschen in Israel stehen. Die meisten heiraten dann im Ausland und lassen die Ehe später vom israelischen Innenministerium anerkennen.

Premier Naftali Bennett unterbrach 2021 eine Kabinettssitzung, um ihm telefonisch zu gratulieren.

»Es ist nicht zu tolerieren, dass jemand für uns bei den Olympischen Sommerspielen antritt und eine Goldmedaille gewinnt, aber nicht in Israel heiraten kann«, empörte sich der damalige Außenminister Yair Lapid. Mehrere Minister pflichteten ihm bei. Artem Dolgopyat war die Debatte, die seine Mutter losgetreten hatte, unangenehm. »Ich halte es nicht für angemessen, über mein Privatleben vor dem ganzen Land zu sprechen«, sagte er. »Das behalte ich lieber in meinem Herzen.«

Das, was er für sich an Öffentlichkeit zulässt, ist das Turnen. Da blieb er weiter an der Weltspitze, auch wenn er wegen eines Ermüdungsbruchs im rechten Fuß eine Weile aussetzen musste. Aber egal, wo Dolgopyat antrat: Irgendetwas zwischen Platz vier und Platz eins war für ihn immer dabei. Weltspitze eben. Aber ein Platz ganz oben, der ihm nicht irgendwie zugefallen ist, sondern den sich Artem Dolgopyat hart erkämpfen musste – und ihn immer wieder verteidigt.

Sein ständiger Kampf, endlich anerkannt zu werden, hört nicht auf

Seine Goldkür bei der Turn-WM 2023 in Antwerpen war dafür exemplarisch. Er wollte sich den Respekt, den Erfolg und die Anerkennung erkämpfen. Das gelang ihm – doch am gleichen Tag demonstrierte in Israel die Hamas mit ihrem Massaker, dass sie Israel und Juden für immer hassen wird. Für Dolgopyat heißt das: Auch sein ständiger Kampf, endlich anerkannt zu werden, hört nicht auf.

Israels Turnteam muss stets von eigenen Sicherheitsleuten begleitet zu den Wettkämpfen der Welt reisen. Dort werden die Sportler auf Schritt und Tritt bewacht. Es wird dafür gesorgt, dass sie immer wieder auf neuen Wegen und zu anderen Zeiten zu ihren Trainings- und Wettkampfstätten gelangen. »Unsere Delegation tut alles dafür, dass wir uns auf das Turnen konzentrieren können«, sagte Dolgopyat im März der »Stuttgarter Zeitung«, als er in Deutschland zu einem Wettkampf antrat. »Mal so, mal so« sei das Gefühl seiner Sicherheit, erklärte er.

Wichtig für ihn ist sein Sport. Das ist seine Art, respektiert zu werden. Entsprechend ernsthaft und selbstkritisch beschäftigt er sich mit dem Turnen. Nach seinem Olympiasieg hatte Artems Vater Oleg Journalisten gesagt, dass die Olympiaübung seines Sohnes doch einige Patzer enthalten habe. Darauf in einem Interview angesprochen, sagte Artem: »Er hat wohl recht.« Im Vergleich zu Olympia sei doch seine Kür bei der WM 2019 in Stuttgart, wo er nur Silber gewonnen hatte, wesentlich besser gewesen. Auch in der Qualifikation von Tokio hätte er mehr Leistung gezeigt. »Ich war wirklich besorgt, dass es nicht für eine Medaille reichen würde. Aber jeder hier war nervös, und jeder hat Fehler gemacht.«

Das war keine später aufgesetzte Bescheidenheit. In genau dem Moment, als der letzte Bodenturner bei Olympia seine Übung beendet hatte und klar war, dass dieser junge Israeli nun Gold gewonnen hat, da kam kein jubelnder Aufschrei aus seinem Mund. Er nahm sich ganz ruhig die israelische Flagge, legte sie um und hob, wie der Berichterstatter der »Times of Israel« es beschrieb, »feierlich die Faust, sanft, fast verlegen«. Er selbst zog am Ende dieses Fazit: »Es hat gereicht, und ich bin sehr glücklich.«

Am 3. August steht bei den Olympischen Sommerspielen in Paris das Finale im Bodenturnen an. Eine weitere große Chance im kämpferischen Leben des Artem Dolgopyat, um endlich anerkannt zu werden – ohne Anfeindungen, ohne Drohungen. Einfach als der Israeli, der einer der besten Turner der Welt ist.

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