Nach 125 Jahren bewegter Geschichte steht das bosnische Nationalmuseum vor dem Aus. Sein Direktor, Adnan Busuladzic, sagt den totalen »Kollaps« voraus – »nicht für Januar oder Februar, aber vielleicht im April oder Mai«. Ausgerechnet in Friedenszeiten gerät die Einrichtung in ernsthafte Schwierigkeiten.
Von den Habsburgern gegründet, retteten Angestellte das Haus und die Ausstellung durch zwei Weltkriege und die Belagerung Sarajevos durch serbische Truppen nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens. Das Nationalmuseum ist dabei nur eine von vielen kulturellen Einrichtungen in Sarajevo, die wegen Geldmangels schließen müssen. Im Dezember schon wurden Universitätsbibliotheken nicht mehr geheizt, die Nationalgalerie schloss. Sarajevo will 2014 übrigens Europäische Kulturhauptstadt werden.
geschichte Ein Höhepunkt in der Ausstellung des Nationalmuseums ist zweifellos die »Sarajevo Haggada«, die sich seit 1894 im Besitz des Museums befindet und wie kaum ein anderes Dokument Sarajevos Geschichte als Miteinander der Religionen repräsentiert. Miniaturen bebildern den Text der Haggada, die um das Jahr 1350 in Spanien geschrieben wurde und zeigen im »Vorspann« Szenen aus der Tora.
Den Bildern ist anzusehen, dass der Maler die Midraschim kannte und die Texte dementsprechend umsetzte. So wird etwa der Sarg von Josef im Nil versenkt. Die Farben leuchten auch noch nach fast 700 Jahren intensiv. Weinflecken und Gebrauchsspuren zeugen von der Nutzung der Haggada.
Nach der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 gelangte sie auf unbekannten Wegen nach Venedig, wo 1609 ein christlicher Zensor das Buch begutachtete. Seine namentlich gezeichnete Freigabe »Revisto per mi« ist bis heute auf der letzten Seite des Textes zu lesen.
Versteckt Während der deutschen Besatzung suchten die Behörden nach dem Dokument. Der damalige Kurator des Museums Derviš Korkut, ein bosnischer Muslim, versteckte das Buch bei einer Hausdurchsuchung unter seiner Kleidung und bewahrte es bis zum Ende der Besatzung auf.
Die Haggada wurde wieder ausgestellt, bis Jugoslawien zerfiel und die Stadt eingekesselt wurde. Als das Haus unter Beschuss durch serbische Artillerie geriet, war es wieder ein bosnischer Muslim, Enver Imamovic, der es rettete und in den Tresorraum der Nationalbank brachte.
Ihr Wert wurde damals auf 700 Millionen Dollar geschätzt. So kamen Gerüchte auf, die Regierung hätte die Haggada verkauft, um vom Erlös Waffen zu erwerben. Ein schlimmer Verdacht, wenn man bedenkt, welche Risiken die Museumsmitarbeiter für die Haggada eingegangen waren.
Um die Gerüchte zu widerlegen, präsentierte man die Haggada zu Pessach 1995 in der jüdischen Gemeinde. Seit 2002 wird sie in einem speziellen Raum ausgestellt. Die Geschichte der Haggada, aber auch der jüdischen Gemeinde der Stadt zeigen, dass das multi-ethnische Sarajevo einst hervorragend funktionierte – bis Konflikte von außen das Miteinander zerstörten. Seit der Gründung der Stadt mussten Juden niemals in einem Ghetto leben und waren ein Teil eines multireligiösen Mosaiks.
Bevor das Haus für die Öffentlichkeit schließen musste, schoss der Kulturminister des kroatischen Teils von Bosnien, Salmir Kaplan, Geld zu. Allerdings reichte das nur, um dringende Rechnungen zu begleichen und die Energieversorgung aufrechtzuerhalten. Doch die weitere Finanzierung und damit die Zukunft des Hauses sind ungeklärt.
Im Ausland betrachtet man die Entwicklung mit Sorge, zählt aber auf das Personal vor Ort. Hanno Loewy, Vorsitzender der Association of European Jewish Museums, sagt, er würde eine Einschätzung der Situation noch abwarten. Es werde sich zeigen, ob die Kollegen Hilfe benötigten.
systembedingt Boris Kožemjakin, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Sarajevos und zugleich Vorsitzender des Exekutivausschusses des Interreligiösen Rates der Stadt, wünscht sich eine andere Behandlung der kulturellen Einrichtungen der Stadt, hält die derzeitige Schließung aber für weniger tragisch. Er verweist darauf, dass alle nötigen Einrichtungen vorhanden seien, um die Haggada zu schützen. Er vertraue dem Nationalmuseum und hoffe auf eine Lösung des aktuellen Problems, so der Gemeindevorsitzende.
Das Problem ist systembedingt: Es ist der politischen Aufsplitterung Bosniens in zwei Föderationen geschuldet, der bosnisch-kroatischen Föderation Bosnien und Herzegowina und der Republika Srpska, der serbischen Republik. Beide haben eine eigene und eine gemeinsame Regierung.
Die Bildung der derzeitigen Regierung hat etwa 15 Monate gedauert und so wurde kein vernünftiger Haushaltsplan für die Jahre 2011 und 2012 aufgestellt. Die Museen und kulturellen Einrichtungen unterstehen dem Staat und müssten durch ihn unterhalten werden.
Die serbische Republik sieht jedoch kein gemeinsames kulturelles Erbe mit dem bosnischen Teil des Landes und weigert sich, der Zentralregierung volle Kontrolle über kulturelle Einrichtungen zu überlassen. Das »Ministerium für zivile Angelegenheiten« stellte bisher etwa 1,5 Millionen Euro für 20 Museen und andere kulturelle Einrichtungen zur Verfügung. Für die Aufrechterhaltung des Betriebs benötigt das Nationalmuseum etwa 650.000 Euro im Jahr, nur ein Teil davon kann durch Spenden aufgebracht werden.
So gibt es in Sarajevo Befürchtungen, es entstünden Begehrlichkeiten »wohlmeinender Helfer« von außen, die Haggada vielleicht lieber außerhalb des Landes aufzubewahren. Dabei zeigt deren »Überleben« und der Stolz einer ganzen Stadt auf ein jüdisches Dokument, dass der multi-ethnische Traum nicht ausgeträumt ist. Zweifellos gehört das Buch nach Sarajevo.