Als er in Sainte-Mère-Église aus dem Auto steigt, hat Guy Stern zunächst nur Augen für ein Baby im Kinderwagen, das von seinen Eltern gefüttert wird. »Welch ein Bild des Friedens – und was für ein Unterschied zu damals«, kommentiert der 94-Jährige mit einem fast erleichtert wirkenden Lächeln, bevor er den Marktplatz überquert. Dieser ist von Blumenrabatten umrahmt, einige Leute sitzen in der Sonne und trinken Kaffee und Cidre, frühsommerliches Idyll einer ganz normalen normannischen Kleinstadt.
Nur die Kirche am Marktplatz verrät weithin sichtbar, was es mit diesem Ort auf sich hat: Oben vom Turm hängt an einem weißen Fallschirm eine in Uniform gekleidete Puppe. Sie erinnert an den D-Day, an die Nacht zum 6. Juni 1944, als hier die ersten amerikanischen Fallschirmjäger landeten. Kurz darauf erreichten auch die alliierten Landungsboote die Strände der Normandie – es war der Anfang vom Ende des Hitlerregimes.
kitsch Das Glück, als erste französische Stadt befreit worden zu sein, wird in Sainte-Mère-Église jeden Sommer mit vielen Veranstaltungen gefeiert, die zwischen großen emotionalen Gesten und Kitsch oszillieren. Auch im örtlichen Einzelhandel ist die Befreiung immer Thema: Die Souvenirläden halten Kekse in Fallschirmform, Weinflaschen mit aufgedruckten Bildern im Schlamm kämpfender Soldaten und meterweise Literatur zum Thema bereit, selbst der Friseur hat sich als Reverenz zur legendären Luftlandedivision 82nd Airborne »Hairborn« getauft.
Für derlei militärtouristischen Kommerz interessiert Guy Stern sich nicht – er hat den echten Krieg kennengelernt. So besucht er im nahe gelegenen Airborne-Museum auch nicht den Hauptteil mit der eindrucksvoll multimedial in Szene gesetzten Operation Overlord. Lieber schaut er sich die eben eröffnete Sonderausstellung über das Gefangenenlager für deutsche Soldaten an, in dem er selbst stationiert war.
Es ist eine kleine sachliche Dokumentation, die eine in der Region lange vergessene Geschichte erzählt: Im nahe gelegenen 130-Einwohner-Dörfchen Foucarville errichteten die Amerikaner kurz nach dem D-Day ein Gefangenenlager, das zeitweise bis zu 60.000 deutsche Soldaten beherbergte.
Auf einsamen Kuhweiden entstand eine effizient funktionierende Stadt mit Eisenbahn, Krankenhaus, elektrischem Licht und einer mit fünf Öfen ausgestatteten Bäckerei. Die Gefangenen mussten arbeiten, die Jüngeren unter ihnen bekamen Schulunterricht – sogar Sportplätze, Kirchen, ein Theater und ein Kino richtete man ein. Es wird deutlich, dass die Kriegsgefangenen bereits hier geistig stimuliert und auf eine nazifreie Zukunft vorbereitet werden sollten. Schon 1947 wurde das Lager wieder abmontiert. Außer einer Gedenkstele erinnert heute nichts mehr an die temporäre Stadt.
Interviews Als Mitglied der Ritchie Boys, einer insgesamt rund 9000 zählenden Einheit der amerikanischen Militärsicherheitsabteilung, verbrachte auch Guy Stern einige Wochen in Foucarville. Mit ausgeklügelten Interviewtechniken befragte er die deutschen Soldaten, um taktische und strategische Einblicke zu erhalten – körperliche Gewalt war dabei streng verboten.
In manchen Fällen, so erzählt Guy Stern lachend, hat er sich dafür sogar verkleidet. »Die deutschen Soldaten waren Opfer ihrer eigenen Propaganda und hatten furchtbare Angst vor den Russen. Also habe ich mich in Kommissar Krukow verwandelt, inklusive Fantasieuniform, Akzent und einem Stalinportrait im Zelt – dann haben die wirklich ausgepackt!«
Die Geschichte der Ritchie Boys ist noch relativ unbeleuchtet, obwohl sie den Krieg entscheidend mitgeprägt haben: Weit über 60 Prozent der für das amerikanische Militär wichtigen, also kriegsentscheidenden Informationen sollen von ihnen stammen.
Das Besondere an dieser Einheit war, dass sie zum Großteil aus deutschsprachigen jüdischen Emigranten bestand, illustre Namen wie Stefan Heym, Hans Habe, Werner Angress, Georg Kreisler, aber auch Klaus Mann gehörten dazu. Für die Ausbildung in psychologischer Kriegsführung war neben Sprach- und Kulturkenntnissen die Intelligenz entscheidend – womit mancher Ritchie Boy sicher reicher ausgestattet war als mit Muskelkraft.
Das Training im Camp Ritchie in Maryland stellte denn auch jede andere Ausbildung in den Schatten. Seine spätere Promotion war dagegen fast ein Kinderspiel, sagt Stern: »Wir mussten zum Beispiel bis ins Detail auswendig lernen, wie eine deutsche Infanterie-Division strukturiert war. Jedes einzelne Abzeichen, jede Offiziers-Epaulette haben wir uns eingeprägt.«
Herkunft Guy Stern, ursprünglich Günther genannt, stammt aus einer assimilierten jüdischen Familie aus Hildesheim. Er konnte 1937 im Alter von 15 Jahren zu seinem Onkel in die USA auswandern, wobei ihn ein Komitee jüdischer Amerikanerinnen tatkräftig unterstützt hatte. Das Vorhaben, auch den Rest seiner Familie nachzuholen, scheiterte.
Guy Stern betont, dass er ein brennendes Verlangen hatte, das Hitlerregime zu bekämpfen – obwohl er sich selbst nicht besonders mutig fand. »Als wir am 9. Juni 1944 von Southampton aus Richtung Normandie übersetzten, hatte ich dreifache Angst: Erstens hatte ich die gleiche Angst wie alle anderen auch. Hinzu kam die schlimme Vorstellung, als Jude in deutsche Gefangenschaft zu geraten. Und drittens kann ich kein Blut sehen – ich laufe schon davon, wenn sich jemand in den Finger schneidet.«
Kaum am Strand von Omaha-Beach angekommen, war diese Schwäche wie durch ein Wunder verschwunden. Der junge Mann fing sofort mit der Befragung der Gefangenen an. Insgesamt sei er wohl auf eine Zahl von bis zu 6000 Verhören gekommen, sagt Guy Stern, der nach seiner Zeit in Foucarville immer weiter mit der Front vorrückte und schließlich in Bad Hersfeld vom endgültigen Kriegsende erfuhr.
Diesem Glück stand schon bald die Gewissheit des Schicksals seiner Familie gegenüber. In Hildesheim erfuhr er, dass seine Eltern und die beiden jüngeren Geschwister Werner und Eleonore im Warschauer Ghetto umgekommen waren. Auch vom weiteren Verwandtenkreis sind ihm nur wenige Cousins geblieben.
Guy Stern, der erst kürzlich die Batmizwa einer um mehrere Ecken verwandten Großnichte feierte, sagt: »Wegen der ungeheuren Verluste, die wir durchmachen mussten, klammern wir uns auch an die weitläufigsten Verwandten. Wir sind einander wie Brüder und Schwestern.«
Germanistik Nach dem Krieg kehrte er zurück in die USA. Es drängte ihn zur Universität, wo er eine rasante akademische Karriere begann – wie übrigens viele andere Ritchie Boys auch. Dass er das Fach Germanistik wählte, irritierte sein Umfeld, schließlich war Deutsch die Sprache der Henker, der man kaum mit Forschungsgeist und erst recht nicht mit Liebe begegnete.
Bestärkt von seinen damaligen Professoren, entschied Guy Stern sich aber doch für diesen Weg. »Ich hätte es als Selbstamputation empfunden, das nicht zu tun – denn genau das wollten doch die Nazis: uns von unserer wahren Bestimmung entfremden.«
Rund 50 Jahre lang unterrichtete er an verschiedenen amerikanischen Universitäten und immer wieder auch als Gastprofessor in Deutschland. Sein Schwerpunkt war neben der Aufklärung die Exilliteratur. Schriftsteller wie Walter Mehring, Herta Pauli, Kurt Hiller oder Arno Reinfrank wurden enge Freunde.
Zudem ist er seit vielen Jahren und bis heute Direktor eines Instituts, das dem Holocaust Memorial Center in Detroit angeschlossen ist, dem ersten Schoa-Museum in den USA. In diesem »International Institute of the Righteous« beschäftigt er sich wissenschaftlich mit der Entstehung des Altruismus und der Frage, wie man Ideale wie Selbstlosigkeit, Rücksicht und Zivilcourage an die kommenden Generationen weitergibt. Außerdem ist er Vizepräsident der Kurt Weill Foundation. Er hält Vorträge, reist viel und schreibt seine Autobiografie, die er spätestens im nächsten Jahr veröffentlicht sehen will – ein Pensum, das so manchen 50-Jährigen an den Rand der Kräfte bringen würde.
Seine Energie und seinen Tatendrang sieht Guy Stern in direktem Zusammenhang mit der Auslöschung seiner Familie. »Als Überlebender sah ich meine Aufgabe darin, ein nützliches Leben zu führen. Ich fühlte, dass ich mein Leben nicht vergeuden darf. So bin ich ein ziemlicher Workaholic geworden«, sagt er, nicht ohne hinzuzufügen, dass es anderen Überlebenden anders ergangen sei und es jedem freistehe, den jeweils eigenen Weg zu wählen.
Menschenfreund In der Begegnung mit Guy Stern zeichnet sich heraus, wie sehr er Respekt, Menschenfreundlichkeit und Höflichkeit verinnerlicht hat. Dass er zudem so fleißig und pünktlich ist – er selbst nennt es »preußisch« –, hilft ihm, die vielen Programmpunkte zu bewältigen, die die normannischen Gastgeber anlässlich seines Besuchs organisiert haben: hier ein Vortrag, dort eine Begegnung mit den Foucarviller Dorfbewohnern, dazu Sektempfänge, französisch ausladende Dinner, Museumsbesuche und Kranzniederlegungen. An allem nimmt Guy Stern teil, posiert für Fotos und beantwortet geduldig die Fragen der Interessierten, die sich um ihn scharen.
Er bekommt Ehrenmedaillen überreicht, amerikanische Flaggen werden gehisst, und die Bezeichnung »Held« fällt oft. Das allerdings streitet er ab, er sei doch höchstens ein tüchtiger Aufklärer gewesen. Kriegsnostalgischer Pathos kommt in seiner Gesellschaft ohnehin nie auf, mit Wortspielen, Jacques-Brel-Liedern und einem enormen Reservoir an Anekdoten bringt er jede Runde in Schwung. Selbst angesichts des frischen Möwendrecks auf der Autoscheibe trällert er sofort los: »Und die silberweißen Möwen, die erfüllen ihren Zweck, immer klack-klack-klack-klack auf das frisch gewaschene Deck« – man hört ihm immer noch an, dass er in seiner Kindheit Mitglied im Hildesheimer Kirchenchor war.
Während manche Veteranen Jahr für Jahr in die Normandie reisen, um an den vielen Gedenkfeierlichkeiten teilzunehmen, hat Guy Stern 72 Jahre gewartet, um wiederzukommen. Warum, verrät der sonst so Auskunftsfreudige nicht.
In Fourcarville, am Rande des einstigen Lagers und der heute so idyllisch grünen Weide, auf der Kühe Löwenzahn kauen, spricht er dann aber doch von seinen Gefühlen: »Natürlich kommt die Erinnerung an dieses riesige Blutbad des Krieges jetzt wieder hoch, und die verzweifelte Erkenntnis, dass all das hätte verhindert werden können. Wäre die Politik damals nur klüger gewesen! Aber ich schaue nach vorn und hoffe, dass die Welt etwas gelernt hat. Es ist so wunderbar, hier zu sein – und doch so weit weg vom Krieg.«