Fast zwei Wochen lang hatten sich Tausende Demonstranten auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, verschanzt. Am Mittwochmorgen löste die Polizei das Protestlager gewaltsam auf. In dichten Reihen drangen mit Helmen und Stahlschilden ausgerüstete Polizisten zum Maidan vor, demontierten Barrikaden und rissen Zelte nieder. »Wir demonstrieren friedlich«, rief Sängerin Ruslana immer wieder von einer Bühne herab, während die Polizei vorrückte.
Josef Zissels hat Verständnis für die Demonstranten. »Ich glaube, dass Massenproteste und ziviler Ungehorsam gerechtfertigt sind, solange die Aktionen nicht gegen die Verfassung verstoßen«, sagt der Mann mit der Strickweste und der Cordhose. Der 67-Jährige ist Vorsitzender der Vereinigung jüdischer Organisationen und Gemeinden der Ukraine (Vaad) sowie Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses. Gemeinsam mit seiner jüngsten Tochter nimmt er jeden Tag an den Protesten in Kiew teil.
Drei Wochen dauert die Krise in der Ukraine schon. Die Proteste, die zunächst als Pro-Europa-Bewegung starteten, schlugen um in eine Revolte gegen die Regierung und gegen Präsident Wiktor Janukowitsch. An den Protesten nehmen auch viele Juden teil. »Sie demonstrieren nicht als Mitglieder der Gemeinden, sondern als Bürger, die die leeren Versprechungen der Regierung satt haben«, sagt Zissels. Die jüdischen Gemeinden rufen ihre Mitglieder nicht zu Demonstrationen auf, halten sie aber auch nicht davon ab. Von den rund 300.000 Juden in der Ukraine sympathisierten eher junge mit der Protestbewegung als ältere, sagt Zissels.
Konstellation Das führt zu einer seltsamen Konstellation: Denn neben den Oppositionsparteien UDAR von Vitali Klitschko und der von Arsenij Jazenjuk geführten Vaterlandspartei demonstriert in Kiew auch die rechtsextreme Swoboda-Partei von Oleg Tijanibok. So gehen Nationalisten und Juden zusammen für die Absetzung der Regierung auf die Straße.
Josef Zissels sieht das gelassen. »Die Swoboda-Partei hat sich im Ton gemäßigt und versucht, mehr ins Zentrum zu rücken«, sagt er. Demonstrantin Ewgenja Talinowskaja fügt hinzu: »Wenn die Nationalisten für einen Regierungswechsel demonstrieren, hält mich das nicht davon ab, dasselbe zu tun.«
Bei den Parlamentswahlen 2012 erreichte die Swoboda-Partei knapp zehn Prozent der Stimmen. Sie hat ihre Basis im Westen der Ukraine und hält dort die Mehrheit in einigen Regionalparlamenten. »Viele Westukrainer wählen die Partei aus Protest gegen Präsident Wiktor Janukowitsch und nicht, weil sie nationalistisch ist«, sagt Andreas Umland, Politologe an der Kiewer Mohyla-Akademie. »Swobodas größter Feind ist Russland, danach kommen die Kommunisten«, fügt Zissels hinzu.
Der bärtige Mann mit den grauen Haaren saß zu Sowjetzeiten wegen seiner Überzeugungen zwei Jahre im Gefängnis. Er las verbotene Bücher, schmuggelte Texte von Dissidenten aus dem Land und engagierte sich im ukrainischen Helsinki-Komitee. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine unterstützte Zissels die Orangene Revolution, bei der im Herbst 2004 Hunderttausende gegen Wahlfälschung und das autoritäre Regime von Präsident Leonid Kutschma protestierten. Die Demonstrationen führten zu Neuwahlen, bei denen der pro-europäische Wiktor Juschtschenko zum Präsidenten gewählt wurde.
Doch wichtige Reformen der Orangenen Regierung blieben wegen des Streits zwischen Juschtschenko und seiner früheren Verbündeten, der damaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, auf der Strecke. Die Präsidentenwahl im Februar 2010 gewann Janukowitsch mit knapper Mehrheit. »Heute kontrollieren rund 1000 Leute im Umkreis von Janukowitsch die ganze Wirtschaft im Land«, sagt Zissels.
Reichtum Viele Demonstranten hoffen, dass mit der Annäherung an die Europäische Union der Reichtum des Landes gerechter verteilt wird – wie in den anderen Ländern Osteuropas, die in den vergangenen 20 Jahren der EU beitraten. Im Unterschied zur Orangenen Revolution ginge es den Protestlern nicht hauptsächlich um Politik, sagt Zissles, »sondern sie möchten, dass sich ihr Leben verbessert«.
Die Demonstranten in Kiew wollen trotz der Polizeieinsätze wieder auf dem Maidan campieren. Sie verlangen den Rücktritt der Regierung und neue Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Doch Staatschef Janukowitsch wird Neuwahlen kaum zustimmen. Laut mehreren Umfragen würde der Parteichef Vitali Klitschko Janukowitsch bei einer Stichwahl besiegen. »Zudem würde der Präsident sicher verhaftet werden, sollte er sein Amt verlieren«, sagt Politologe Umland.
Viele Ukrainer spekulieren darüber, wie es nun weitergeht. »Womöglich versucht Janukowitsch einen Kompromiss und entlässt einige Minister seiner Regierung«, sagt Zissels. Das werde die Spannungen aber nicht lösen. Ein erneuter Gewalteinsatz der Polizei sei nicht auszuschließen.