Während selbst russische Polizisten die Sicherheitskontrollen zum Gelände der Olympischen Winterspiele in Sotschi über sich ergehen lassen mussten, wurde Rabbiner Berel Lazar durchgewunken. Der mit der chassidischen Chabad-Bewegung verbundene russische Oberrabbiner war von Wladimir Putins Präsidentenbüro zur Eröffnungsfeier der Spiele eingeladen worden. Da die Veranstaltung am Schabbat stattfand, hatte Lazar die Einladung zunächst abgelehnt mit der Begründung, er dürfe am Schabbat keine Dokumente bei sich tragen. Laut Boruch Gorin, einem wichtigen Mitstreiter von Lazar, befahl Putin daraufhin seinen Leuten, für den Rabbiner einen alternativen Eingang einzurichten, an den Sicherheitsschleusen vorbei.
Für Gorin beweist diese Anekdote Putins positive Einstellung dem russischen Judentum gegenüber. In Gorins Augen ist diese Haltung aufrichtig, beispiellos in der russischen Geschichte und von großem Vorteil für das jüdische Leben im Land.
Umarmung Andere Beobachter sehen die Gründe für Putins Umarmung des Judentums in anderem Licht. »Wegen der Menschenrechtssituation steht Putin seit Langem in der internationalen Kritik«, sagt der in der Sowjetunion geborene Roman Bronfman, ein ehemaliges Mitglied der Knesset. »Putin braucht einen Schild, und das sind die Juden. Seine herzlichen Beziehungen sind Mittel zum Zweck.«
Im Zuge der Bemühungen, die Revolution gegen seinen Verbündeten, den ehemaligen Präsidenten der Ukraine, Viktor Janukowitsch, zu diskreditieren, präsentierte sich Putin in den vergangenen Wochen als Verteidiger der Juden. In einer Pressekonferenz am 4. März bezeichnete er die Demonstranten als »reaktionäre, nationalistische und antisemitische Kräfte«.
Obwohl rechtsgerichtete ukrainische Gruppen – einschließlich einiger, die in der Vergangenheit eindeutig antisemitische Positionen vertraten – in der Oppositionsbewegung tatsächlich eine wichtige Rolle spielten, widersprachen die meisten jüdischen Repräsentanten in der Ukraine der Charakterisierung Putins scharf und verurteilten Russlands Einmarsch auf der Krim.
Spenden Unbestritten begegnet Putin jüdischen Einrichtungen in Russland mit großem Wohlwollen – vor allem Chabad und ihren führenden Vertretern. Gorin, Chabad-Rabbiner und Direktor des Moskauer Jüdischen Museums und Zentrums für Toleranz, schreibt die Bereitstellung staatlichen Geldes für die im Jahr 2012 geöffnete Institution Putin persönlich zu. Zudem spendete der Präsident dem Museum ein Monatsgehalt. »Auf Wunsch der jüdischen Gemeinde hat Putin die Eröffnung von Synagogen und Gemeindezentren in ganz Russland ermöglicht, was das jüdische Leben, vor allem außerhalb Moskaus, tiefgreifend verändert hat«, sagt Gorin. »Putin etablierte jährliche Treffen mit der jüdischen Spitze und nahm an jüdischen Veranstaltungen teil.«
Michail Chlenov, Generalsekretär des Eurasischen Jüdischen Kongresses, meint, die Tatsache, dass es in Russland vergleichsweise selten zu antisemitischen Vorfällen kommt, liege auch an Putins projüdischen Neigungen. Unter Putin wurden strenge Gesetze verabschiedet, die ein hartes Vorgehen gegen die einst starken ultranationalistischen Gruppierungen in Russland ermöglichten. Allerdings wurden die verschärften Bestimmungen auch zur Verfolgung von Aktivisten eingesetzt, die gegen die Putin-Regierung kämpfen, zum Beispiel die Punk-Rock-Gruppe »Pussy Riot«. »Putin mag für die Juden gut sein, aber er ist schlecht für Russland«, fürchtet Michael Edelstein, Dozent an der Moskauer Lomonossow-Universität und Journalist für die jüdische Zeitung »L’chaim«.
kindheit Putin selbst führt seine Verbundenheit mit dem Judentum auf seine frühe Kindheit in Leningrad zurück, als er sich mit einer jüdischen Familie anfreundete, die im gleichen Wohnblock lebte. In seiner Autobiografie aus dem Jahr 2000 schreibt er darüber. Eine weitere jüdische Persönlichkeit, die ihn beeinflusste, war sein Ringertrainer Anatoly Rachlin, der im jungen Putin das Interesse am Sport weckte und ihn von den rauen Straßen Leningrads holte, wo Putin oft in Straßenkämpfe verwickelt war.
Bronfman nennt Putins Kindheitserinnerungen ein Deckmäntelchen und vergleicht sie mit den Zeichen von Wohlwollen, die der russische Führer Israel gegenüber signalisiert, das er zuletzt 2012 besuchte. Er zeigte Verständnis für die Gefahren, mit denen Israel in der Region konfrontiert ist, und sagte, er »werde nicht zulassen, dass eine Million Russen« – das heißt: Israels russischsprachiger Bevölkerungsanteil – »unter ständiger Bedrohung leben«. Zur gleichen Zeit aber kritisierte Moskau die europäischen Sanktionen gegen den Iran und führte Verhandlungen über den Verkauf des weiterentwickelten Luftverteidigungssystems S-300 an Syrien.
Oligarchen Kurz nach der Amtsübernahme geriet die Putin-Regierung mit einigen mächtigen jüdischen Geschäftsleuten aneinander, darunter Wladimir Gusinsky und Boris Beresowsky, die beide ins selbst gewählte Exil gingen. »Als er die Oligarchen ins Visier nahm, spürte Putin, dass ein solches Vorgehen als Antisemitismus ausgelegt werden könnte. Deshalb umarmt er Chabad – öffentlich und demonstrativ«, sagt Zvi Gitelman, Judaistik-Professor an der University of Michigan, der über das Verhältnis zwischen ethnischer Zugehörigkeit und Politik in der ehemaligen Sowjetunion forscht.
Inzwischen hat sich Chabad in ganz Russland etabliert. »Mit Putins Hilfe ist die Bewegung zur vorherrschenden religiösen Ausdrucksform des Judentums in einer vorwiegend nichtreligiösen Bevölkerung geworden«, so Gitelman. Michael Oschtrach, ein Vertreter der Jüdischen Gemeinde von Jekaterinburg, sieht diese Entwicklung mit Sorge: Die Vorzugsbehandlung, die Chabad von der Putin-Regierung erfährt, »führt dazu, dass sich monolithische jüdische Institutionen etablieren, die jegliche Entwicklung von unten verhindern, in der die eigentliche jüdische Erneuerung liegt«.
Bei Putins Israelbesuch 2012 befand sich in der Entourage auch Berel Lazar. Er führte den Präsidenten in Jerusalem persönlich zur Westmauer. Für Gitelman zeigt dies, wie eng Putins Verhältnis zum russischen Zweig der Chabad-Bewegung ist – »eine Beziehung zum gegenseitigen Nutzen«.