Eli Haligua hat sich »geoutet«. Der junge Mann hat per Internet seine politische Präferenz öffentlich gemacht: Nur für einen der drei Kandidaten um das Amt des türkischen Staatspräsidenten schlägt sein Herz. Weder für den amtierenden Regierungschef Recep Tayyip Erdogan, der sich sicher ist, am 10. August gewählt zu werden, kann sich Haligua erwärmen, noch für Ekmeleddin Ihsanoglu, den gemeinsamen Kandidaten der nationalistischen Partei MHP und der kemalistischen CHP.
Haligua will Selahattin Demirtas von der »Demokratischen Partei der Völker« (HDP) wählen. Den Grund dafür erörtert der 30-Jährige auf der unabhängigen Medienplattform Bianet: Der kurdische Politiker engagiere sich für die Gleichberechtigung aller Minderheiten im Land, stehe überzeugend für demokratische Grundwerte und für die Achtung vor Natur und Umwelt ein.
Bildungsbürgertum Erdogan werde wohl kaum Stimmen aus der jüdischen Gemeinschaft bekommen, meint Haligua, wohl aber Ihsanoglu; der hat zwar auch einen islamisch-religiösen Hintergrund, ist aber ein Kandidat der CHP, der Partei also, die von Juden favorisiert wird – und er gehört dem Bildungsbürgertum an.
Um Haliguas parteipolitische Präferenz würde man kaum allzu viel Aufhebens machen, wenn der Sounddesigner nicht jüdisch wäre. Von den stimmberechtigten Bürgern unter den gerade mal rund 15.000 Juden im Land hängt die Präsidentschaftswahl zwar nicht ab. Trotzdem ist es bemerkenswert, dass ein junger Mann wie Haligua das Wort ergreift und erklärt, für wen er stimmen werde, und warum es wichtig sei, Demirtas zu wählen.
Staatsfeinde Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass sich türkische Juden öffentlich zur Politik ihres Landes äußern. Haligua hat dafür eine Erklärung: »Man schweigt, um keine Angriffsfläche zu bieten.« Diese Zurückhaltung sei auch in seiner Familie praktiziert worden. Denn die Nachkommen der sefardischen Juden, die vor mehr als 500 Jahren ins Osmanische Reich flüchteten, werden noch immer und von viel zu vielen im Land wie Fremde behandelt und als Staatsfeinde wahrgenommen. Sie werden schnell zur Zielscheibe von Antisemiten, besonders dann, wenn Konflikte mit Israel die politische Tagesordnung bestimmen.
In der Türkei wird der Antisemitismus weitaus offener und ungehemmter artikuliert als in vielen anderen Ländern. Gehetzt wird nicht von einzelnen Personen und nicht nur in sozialen Netzwerken, sondern auch in regierungsnahen Zeitungen. Renommierte Journalisten, namhafte Politiker und Prominente aus der Unterhaltungsbranche beteiligen sich daran.
So twitterte die bekannte Popsängerin Yildiz Tilbe als Reaktion auf die Angriffe der israelischen Armee in Gaza kürzlich: »Möge Gott Hitler segnen – er hat weniger getan, als er hätte tun sollen«. Statt Zurechtweisung seitens politisch Verantwortlicher erhielt sie Rückendeckung von Melih Gökcek, dem Oberbürgermeister der türkischen Hauptstadt Ankara, der Mitglied der Regierungspartei AKP ist. Und die islamische Zeitung Yeni Akit veröffentlichte jüngst einen Artikel mit der Überschrift »Der jüdische Charakter« – darin war unter anderem zu lesen, dass Juden keinen Verstand hätten und ängstliche Wesen seien.
Ressentiments Diese ungehemmt artikulierte Judenfeindschaft bringen politische Analysten unter anderem mit der türkischen Staatsideologie in Verbindung, die nationalistisch ist und auf dem sunnitischen Islam aufbaut. Laut einer Studie der Anti-Defamation League (ADL), die erstmals die Verbreitung antijüdischer Ressentiments weltweit untersucht hat und im Mai veröffentlicht wurde, hegen in der Türkei etwa zwei Drittel der Einwohner Vorurteile gegen Juden. Auf der Antisemitismusskala nimmt das Land damit Platz 17 unter 102 Staaten ein.
Als einer der prominentesten Provokateure gilt Regierungschef Erdogan. Er ist bekannt für seine Ressentiments gegen Israel sowie dafür, dass er sich im Ton vergreift und zu Generalisierungen neigt. Das hat er einmal mehr am vergangenen Wochenende auf einer Wahlkampfveranstaltung bewiesen: Mit dem Hinweis auf palästinensische Kinder, die von »denen« getötet würden, rechtfertigte er seinen Zorn und Hass auf Israel, dessen Politik sich nicht von der Hitlers unterscheide.
Ansprachen dieser Art drücken aus, wie halbherzig sein einige Wochen zuvor artikulierter Appell an die Bevölkerung ist, die türkischen Juden nicht mit Israel in einen Topf zu werfen und sie nicht verantwortlich zu machen für Israels »unmenschliche Politik«. Erdogans Rhetorik ist aggressiv; sie grenzt Juden und andere Minderheiten aus. Wenn er von »denen« spricht, meint er nicht nur Israel, sondern auch »die Juden«.
Auf Erdogans scharfe Kritik an Israels Gaza-Offensive reagierte der Amerikanisch-Jüdische Kongress (AJC) unlängst mit der Forderung, der Ministerpräsident solle den an ihn vor zehn Jahren verliehenen Preis für Zivilcourage (Profile of Courage Award) zurückgeben. Der Premier zeigte sich unbeeindruckt und ließ den AJC-Präsidenten wissen, dass er seine Kritik am Vorgehen Israels keinesfalls zurücknehmen werde und den Preis »gern« zurückgebe.