San Martín, ein Vorort von Buenos Aires. Roberto Sandmann parkt vor seiner Firma, einem kleinen Chemiebetrieb. Die Fassade ist graffitibeschmiert, das Tor steht offen. Drinnen ist es düster, auf Platten sind blaue Plastikkanister aufgereiht. »Wir arbeiten für die Milchindustrie, unter anderem produzieren wir Reinigungsmittel für Melkmaschinen«, sagt Sandmann, Sohn deutsch-jüdischer Einwanderer.
Der joviale Argentinier ist 70 Jahre alt. Im zurückliegenden Jahrzehnt hat er so viel wie selten in seinem Leben gearbeitet, denn als Argentinien 2001 den Staatsbankrott erklärte, brachen auch Sandmanns zwei Unternehmen unter ihren Schulden zusammen: die Chemiefirma und ein Grafikbetrieb. »Die Grafikfirma hatte 1948 mein Vater gegründet. 54 Jahre am Markt – und dann pleite!«
Schulden Roberto Sandmann kann immer noch nicht fassen, was 2001/2002 geschah, als Zehntausende Existenzen zerbrachen, ein Viertel der Argentinier arbeitslos war und fast die Hälfte arm. Doch nach dem Konkurs kam der Neuanfang – für Argentinien und auch für Roberto Sandmann. Der Kleinunternehmer impfte seinem Chemie- und auch dem Grafikbetrieb neues Leben ein, bezahlte seine Schulden und bildete neues Kapital.
»Fast zehn Jahre mussten wir den Gürtel eng schnallen: kein Urlaub, keine Restaurantbesuche«, blickt Sandmann zurück. Inzwischen konzentrieren sich er und sein Sohn ganz auf die Chemiefirma, die 15 Angestellte hat und ihre Produkte auch in andere Länder Lateinamerikas und nach Spanien exportiert.
Dass Argentinien 13 Jahre nach dem Default nun wieder einen Zahlungsausfall erlebt – zumindest einen »partiellen«, stimmt Roberto Sandmann besorgt. Doch er stellt klar: Die heutige Lage sei mit dem Drama von 2001 nicht zu vergleichen. »Dies jetzt ist eine ungewöhnliche Situation. Argentinien hat Geld, will seine Schulden bezahlen – und wird daran gehindert.« Sandmann bezieht sich darauf, dass ein New Yorker Richter die vor Kurzem fällige Rate Argentiniens an den Großteil seiner Gläubiger blockierte – was den Default auslöste. 2005 und 2010 hatten 92 Prozent der Besitzer argentinischer Staatsanleihen drastische Schuldenschnitte akzeptiert. Der Rest der Gläubiger war nicht dazu bereit – darunter die Hedge Fonds, die von Argentinien 1,6 Milliarden Dollar fordern.
Weil sich die Regierung von Präsidentin Cristina Kirchner jetzt weigert, die »Geier-Fonds« auszuzahlen, blockiert die US-Justiz jetzt den laufenden Schuldendienst. Die Ungewissheit darüber, wie es nun weitergehe, werde die Wirtschaft weiter lähmen, fürchtet Sandmann: »Keiner investiert, keiner kauft – man weiß ja nicht, was kommt.«
Rezession Argentiniens Wirtschaft ist seit einigen Monaten in der Rezession – vorbei die Zeit, in der sie jedes Jahr um rund acht Prozent wuchs. Massenentlassungen und steigende Arbeitslosigkeit sind dieser Tage ein ständiges Thema in den argentinischen Medien. Für Carlos Vitas, einen Chemieingenieur im vorzeitigen Ruhestand, ist der jetzige Zahlungsausfall nur eines von vielen Problemen seines Landes, zu denen auch die galoppierende Inflation gehöre.
Dieses Jahr wird sie voraussichtlich 30 Prozent betragen. Carlos Vitas arbeitete 32 Jahre lang für den argentinischen Ölkonzern YPF. Der 64-Jährige lebt nun von seiner Abfindung, deren realer Wert infolge der Inflation langsam dahinschmilzt. »Ich tue, was ich kann, um den Verlust meiner Kaufkraft aufzuhalten. Aber die Inflation ist immer schneller als ich«, seufzt Vitas, ehrenamtlicher Mitarbeiter der Synagoge Templo Libertad in Buenos Aires. Vitas’ Tochter ist Grafikdesignerin und bekommt, ihrem Vater zufolge, wegen der stagnierenden Wirtschaftsentwicklung zurzeit kaum Aufträge.
Freiberufliche Grafikdesignerin ist auch Paula Beinstein. Die 45-Jährige sieht die Lage weniger schwarz. »2001 war Argentinien wie gelähmt. Damals habe ich wirklich nur noch die Wand angestarrt, weil ich nichts zu tun hatte. Heute aber bekomme ich Aufträge.« Als das Land vor 13 Jahren pleite war, gab Paula Beinstein sogar ihre Mietwohnung auf und zog wieder zu den Eltern. Doch vor sieben Jahren konnte sie sich eine eigene Wohnung kaufen. Ihre Mutter bekommt, obwohl sie nur zwei Jahre gearbeitet hat, die argentinische Mindestrente.
»Ich sehe keinen Stillstand, ich sehe Bewegung. Die Leute zahlen Steuern, sie konsumieren, sie gehen ins Café. Es wird gebaut, und Ingenieure kommen zurück nach Argentinien«, zeigt sich Paula Beinstein optimistisch. Den Zahlungsausfall bezeichnet sie lächelnd als »spekulativen Default« – in Anspielung auf die Hedge Fonds, die die Schuldscheine erst 2008 kauften und einen gigantischen Gewinn machen würden, falls Argentinien zahlt.
Dynamik Unternehmer Roberto Sandmann sieht seinen erfolgreich sanierten Chemiebetrieb trotz der Rezession nicht in Gefahr. »Kühe müssen jeden Tag gemolken werden. Die Milchindustrie ist ein dynamischer Sektor, zum Glück haben wir unsere Marktnische gefunden. Wir haben aus den vielen Krisen gelernt.«
Doch die Ungewissheit, die der partielle Zahlungsausfall mit sich bringe, müsse so schnell wie möglich ein Ende haben. Sandmann ist optimistisch, dass die argentinische Regierung Anfang 2015 wieder mit den Hedge Fonds verhandeln werde – denn dann laufe die sogenannte RUFO-Klausel aus. Sie gebe den Gläubigern heute die Möglichkeit, auf Gleichberechtigung zu pochen, falls das Land die Hedge Fonds in voller Höhe auszahlt. Es könnten also weitere exorbitante Forderungen auf Argentinien zukommen – aber 2015 wird diese Gefahr offenbar gebannt sein.
»Ich bin nicht nur optimistisch, dass unsere Regierung dann wieder verhandelt – ich bin realistisch«, meint Roberto Sandmann. In Argentiniens Wirtschaft sieht er ein großes Zukunftspotenzial – aber das Land brauche Investitionen und Zugang zu den internationalen Finanzmärkten, und dafür müsse es einen Schlusspunkt unter sein Schuldendrama setzen.