Er zieht den weißen Vorhang zu. Das helle Licht von draußen blendet sein krankes linkes Auge hinter der großen Brille. Auf dem rechten ist er bereits blind. Fälscherarbeit ist Augenarbeit. Jahrzehntelang blickte dieses Auge durch Lupen, Kamerasucher, Mikroskope. »Ich habe es ruiniert«, sagt Adolfo Kaminsky und setzt sich an den großen Tisch im Wohnzimmer. Seine Tochter Sarah telefoniert in der Küche. Seine Frau Leila bringt eine Tasse Tee. »Kann ich noch ein Stück Zucker haben?«, bittet er sie. Leila bringt die Zuckerdose und lächelt ihn an.
Kaminskys langer schlohweißer Bart hebt sich leuchtend gegen seinen schwarzen Pulli ab, unter dem er ein weißes Hemd trägt. Am Gürtel seiner schwarzen Jeans trägt er ein Handy. Er zeigt unter den Tisch, auf seine schwarzen Hausschuhe. Der rechte hat ein ausgefranstes Loch. »Den hab ich aufgeschnitten wegen der Schmerzen im Fuß.« Sie verleiden ihm das Spazierengehen. Der Weg zum Eiffelturm wenige Minuten von seinem Pariser Appartement entfernt ist zu beschwerlich.
Fotos Aber über das Alter und seine Krankheiten will der 89-Jährige nicht lange reden. Lieber über seine Fotos. Sie hängen an den Wohnzimmerwänden. Schwarz-weiße Paris-Motive. Gerade hat er mithilfe seiner Tochter eine Ausstellung gestaltet. »Kommen Sie!« Kaminsky steht auf und geht mit kleinen hastigen Schritten vor. »Ich habe viele Fotos, die ich sehr mag und die noch niemand gesehen hat.«
Am Ende des Flurs öffnet er eine Tür. Ein zugestellter Duschraum, vier Quadratmeter groß: sein Fotolabor. Das Fenster verdunkelt mit schwarzem Papier. Flaschen mit Chemikalien auf der Spiegelablage, Schachteln voller Negative. Im Duschbecken liegen Plastikwannen zum Entwickeln. Er schaltet die kleine Leuchtwand ein, an der er seine Negative anschaut, greift in eine Ilford-Schachtel, das Schutzpapier raschelt. Er zieht Negative heraus. In seiner Wohnung hat er Tausende davon, er hat sie nie gezählt. Und hatte bisher nie Zeit, Abzüge zu machen. Das holt er jetzt nach.
Der Mann, der als einer der größten Fälscher des 20. Jahrhunderts gilt, fast 30 Jahre lang im Untergrund arbeitete, für Juden und politisch Verfolgte in der ganzen Welt Dokumente fälschte: Er verwendet seine letzte Sehkraft auf die Entwicklung und Archivierung seiner Fotos aus früheren Zeiten.
Adolfo Kaminsky wurde Fälscher, weil es nötig war. »Ich hatte keine Wahl«, sagt er. Seine Eltern, russische Juden, begegnen sich 1916 in Paris und wandern ein Jahr später wegen der Folgen des Ersten Weltkriegs nach Argentinien aus. Dort kommt Kaminsky 1925 zur Welt. Die Familie erhält die argentinische Staatsangehörigkeit. Als er fünf Jahre alt ist, kehren die Kaminskys nach Frankreich zurück. In der Normandie macht der junge Adolfo eine Färberlehre. Der Umgang mit Chemikalien begeistert ihn: Heimlich experimentiert er mit Farbmustern und Stoffresten, die in der Schneiderwerkstatt seines Vaters herumliegen. Mit 14 Jahren faszinieren ihn Tinten, die man angeblich nicht löschen kann. Der Autodidakt schafft es, sie alle zum Verschwinden zu bringen. Im Zweiten Weltkrieg stellt er für die Leute im Ort Seifen, Schuhcreme und Kerzen her.
Als die Nazis 1940 Frankreich besetzen, wird der Alltag für die Juden immer schwieriger. Dann erlebt Kaminsky einen schlimmen Verlust: Seine Mutter stirbt bei einer Zugfahrt von Paris zurück in die Normandie. Die Polizei behauptet, sie habe während der Fahrt die Zugtür geöffnet, weil sie dachte, es wäre die Tür zur Toilette. Adolfo und sein Vater sind sich sicher, dass die Nazis sie umgebracht haben.
Kunst Kaminsky zeigt auf seine Fotos aus den Nachkriegsjahren. Auf einem ist ein kleines Mädchen in einer engen Pariser Straße zu sehen. »Heute stehen da moderne Betonhäuser, die Gasse sieht ganz anders aus«, sagt er. Daneben das Foto eines Buchhändlers inmitten seiner Bücher, umgeben von vier Katzen. Und die Opéra Garnier. »Eigentlich wollte ich Künstler werden, Maler«, sagt er. Aber sein Vater ließ ihn nicht, er sollte einen anständigen Beruf lernen. Später war das Fotografieren für ihn ein Ersatz für das Malen.
Kaminsky zeigt auf die kastenförmige Lorillon-Kamera neben dem roten Sofa. »Das war der Apparat, mit dem ich die Reproduktionen für die Pässe gemacht habe.« Dann holt er eine alte Rolleiflex. »Sie machte sehr gute Fotos.« Wenn er sich für diese alte Technik begeistert und über Fotografie spricht, wirkt der alte Mann ganz jung.
Was für ihn heute ein Hobby ist, war Teil seines Fälscherlebens: Kaminsky brachte sich die Fotografie selbst bei, um Pässe und Papiere fälschen zu können. Der Job als Fotograf war zugleich eine Tarnung für den Mann, der für seine Untergrundarbeit ständig Chemikalien und Papier benötigte.
Über seine Vergangenheit als Fälscher hat er lange Zeit gar nicht gesprochen und tut es auch heute eher ungern. »Ich schwieg zeitlebens lieber, reden liegt mir nicht so.« Kaminsky setzt sich wieder, trinkt einen Schluck Tee.
1943, der Tod der Mutter liegt noch nicht lange zurück, wird der Rest seiner Familie in das französische Internierungslager Drancy gebracht. Er sieht, wie Tausende Juden von dort in die Vernichtungslager deportiert werden. Auch kleine Kinder und Greise. Angeblich sollen sie in Deutschland in Lagern arbeiten. »Wir wussten, dass das nicht stimmte«, sagt Kaminsky. Er, seine Schwester, sein Bruder und sein Vater entgehen der Deportation: Das argentinische Konsulat sorgt dafür, dass sie freikommen.
Kaminsky hat Tränen in den Augen. Für ihn war es damals schwer zu akzeptieren, dass gerade er davonkam. »Es gibt eine Schuld des Überlebenden, die kaum zu ertragen ist. Dieses Schuldgefühl ist der Grund für mein Leben, so wie es geworden ist.«
Nach der Befreiung aus Drancy verhilft ihm die Résistance mit gefälschten Papieren zu einer neuen, sicheren Identität: Von nun an heißt er Julien Adolphe Keller und ist Franzose. Der Widerstand wird auf den Tintenexperten mit Chemiekenntnissen aufmerksam und fragt ihn, ob er die Résistance unterstützen will. Kaminsky sagt ja. Es gibt ihm das Gefühl, seine Mutter rächen zu können. Sein Fälscherleben beginnt. Er ist gerade einmal 18 Jahre alt.
Tagsüber arbeitet er in Paris als Fotograf, nachts fälscht er in einem versteckten Labor. Er bearbeitet Fotos, macht Geburtsurkunden, Führerscheine und Pässe nach. Er reproduziert mittels Fotogravur und Lichtdruck Stempel, Briefköpfe und Wasserzeichen. Seine Ausrüstung ist improvisiert: Materialien vom Flohmarkt, Bindfaden, selbst nachgebaute komplizierte Apparate.
Vichy »Nehmen Sie von den Pralinen«, sagt Kaminsky und nascht selbst. Dann holt er einen kleinen Karton mit gefälschten Werken von früher: ein roter vorläufiger Fremdenpass mit Hakenkreuz. Steuermarken, Lebensmittelkarten. Ein französischer Ausweis von Anfang der 40er-Jahre, als die Vichy-Regierung mit den Deutschen kollaborierte. Er zeigt auf das Ausstellungsdatum: »Hier, die Ziffer 9 habe ich zu dick überschrieben. Den musste ich noch einmal machen.« Stolz verschließt er die Schachtel wieder. Nichts war vor Kaminsky fälschungssicher. Nicht einmal Schweizer Pässe.
Bis zum Kriegsende unterstützt Kaminsky die Résistance. Doch auch in den Jahrzehnten danach hören die Anfragen von Widerstandsgruppen nicht auf. Er fälscht weiter – zunächst Papiere für Tausende Holocaust-Überlebende, die nach Palästina einwandern wollen. Später für Widerstandskämpfer in Spanien, die sich gegen die Franco-Diktatur wehren, für Revolutionäre in Lateinamerika, für Freiheitskämpfer in Südafrika, die sich nach 1960 aus dem Untergrund gegen die Apartheid zur Wehr setzen, die Griechen, die Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre Widerstand gegen die Militärdiktatur leisten. Der Antikolonialist Kaminsky stellt seine Arbeit der algerischen Unabhängigkeitsbewegung gegen die Kolonialmacht Frankreich zur Verfügung. Weil er sich für Frankreich schämt. Zeitweise arbeitet er für Kämpfer und Gehorsamsverweigerer aus 15 Ländern gleichzeitig.
1968 leistet er einen Fälscher-Beitrag zur Mai-Revolte. Er verhilft Daniel Cohn-Bendit zu einem falschen Pass, damit der aus Frankreich ausgewiesene Anführer der Studentenproteste in Paris eine Rede halten und die Polizei verblüffen kann. Kaminsky bezeichnet diese Fälschung später als die medienwirksamste, aber auch unnötigste seines Lebens.
In seiner Fälscherzeit verstößt er nie gegen seine zwei Prinzipien: Er hat immer nur Kontakt zu einem einzigen Verbindungsmann. Und er nimmt nie Geld für seine Fälschertätigkeit, obwohl ihn die Schulden oft erdrücken. »Geld zu nehmen, bedeutet: Man wird abhängig. Wenn ich mich hätte bezahlen lassen, hätte man Forderungen stellen können.« 1962 verbrennt er sogar einmal eine große Menge Falschgeld. Er hatte massenweise 100-Franc-Scheine hergestellt, um die französische Wirtschaft während des Algerienkrieges zu destabilisieren. Doch dann kommt es zum Waffenstillstand – die Aktion ist nicht mehr nötig. Er habe sich erleichtert gefühlt, das viele Geld brennen zu sehen, sagt er.
Kaminskys Tochter Sarah telefoniert nicht mehr und setzt sich an den Tisch. Sie legt liebevoll ihre Hand auf die seine. Lange wusste sie nichts von diesem Leben ihres Vaters. Weil er oft lügen oder schweigen musste. Viele seiner Lebensgefährtinnen und Freunde wissen in all den Jahren nichts von seinem Doppelleben. Die Ehe mit seiner ersten Frau, mit der er Anfang der 50er-Jahre zwei Kinder bekommt, scheitert. Viele seiner Partnerinnen haben kein Verständnis dafür, dass er nachts um vier Uhr das Haus verlässt und drei Tage lang nicht mehr auftaucht. Dass er ständig arbeitet, aber immer zu wenig Geld hat.
Kaminsky bleibt jahrzehntelang ein Gefangener seiner Geheimnisse. Er sagt noch heute, dass er das tun musste. »Wenn ich mit meinen Nächsten über meine Arbeit gesprochen hätte, hätte ich sie in Gefahr gebracht.« Natürlich hat er darunter gelitten. Unter den schlaflosen Nächten. Unter dem Geldmangel und der Angst, aufzufliegen. Doch wenn er an jene Unbekannten in Not dachte, deren Leben in seiner Hand lag, war jegliches Selbstmitleid sofort verflogen.
Was bedeutet jemandem, der sein Leben außerhalb des Gesetzes führte, der Begriff Ehrlichkeit? »Ehrlich zu sein, ist sehr wichtig«, sagt Kaminsky ernst. »Ich betrachte mich als jemanden, der im Grunde immer ehrlich gewesen ist.« Die Verfolgten mussten auf seine Ehrlichkeit vertrauen können. Nur so konnten sie gerettet werden. Kaminsky sagt eine Weile nichts. Dann: »Ja, man kann lügen und gleichzeitig ehrlich sein.« Das gelte nicht, wenn es um das eigene Interesse gehe. »Aber wenn man lügt, um Menschenleben zu retten, verletzt das nicht die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit.« Da ist er mit sich ganz im Reinen.
Das Doppelleben habe ihn nicht verändert, sagt er. Aber die Vergangenheit lasse ihn nie los. Das zeigt ihm sein Körper seit einiger Zeit auch mit einer seltenen Form der Schuppenflechte. Der ständige Druck, das Ruhigbleiben- und Sich-anders-geben-Müssen, obwohl er Todesängste durchlitt: »Meine gesundheitlichen Probleme habe ich wegen meines schwierigen Lebens.«
Bonusleben 1971 steigt Adolfo Kaminsky aus. Einige Vorfälle, die auf undichte Stellen im Netzwerk hinweisen, beunruhigen ihn. Er fühlt sich verbrannt. Er muss sich verstecken. Er ist 46, seit dem Alter von 18 Jahren ist er Fälscher. Dass er niemals aufflog, ist ein kleines Wunder. Er reist nach Algerien und beginnt dort sein »Bonusleben«, wie er es nennt.
Zehn Jahre bleibt er dort, arbeitet als Dozent für Fotografie. Er lernt eine viel jüngere Algerierin kennen, eine Jurastudentin: Leila. Sie gründen eine Familie, bekommen drei Kinder. Sarah, 1979 geboren, ist die Jüngste. Als sie geboren wird, ist er bereits 54 Jahre alt. 1982 kehrt die Familie zurück nach Frankreich – aus Angst vor der politischen Entwicklung in Algerien.
Sarah wollte nicht, dass seine Erinnerungen mit seinem Tod verschwinden, und verfasste seine Biografie. »Der Anstoß für das Buch war die Geburt meines Sohnes«, sagt Sarah Kaminsky. Ihr wurde klar: Er soll einmal wissen, was sein Großvater geleistet hat. Dass er aus humanitären Gründen Illegales tat. »Ich musste das Buch schreiben.«
Er sei sehr stolz auf seine Tochter und darauf, wie sie es geschrieben habe, sagt Adolfo Kaminsky und blickt sie an. »Ich hätte das niemals so hinbekommen. Das wäre eine viel zu schwere Kost geworden.«
Ab und zu, wenn er laufen kann, geht er mit seiner Tochter in Schulen und erzählt seine Geschichte. Einmal hat eine Chemieklasse nach seinem Schulbesuch Seife produziert und ihm ein Stück geschickt. Ein anderes Mal gab ihm eine Frau, für die er einen Schweizer Pass und Führerschein fälschte, diese Papiere zurück und bedankte sich. Solche Ereignisse rühren ihn.
Für viele ist Adolfo Kaminsky ein Held. »Ich bin kein Held, ich bin eine Null« – »Je ne suis pas un héros, mais zéro«, sagt er und lacht freudig, weil es sich reimt. »Ich hatte einfach das Glück, etwas machen zu können und Menschen zu retten. Das macht mich zufrieden.«