Sie hieß Rut Dorfman und kam aus Warschau. Samuel Willenberg sollte ihr das Haar abrasieren, damals, 1943 in Treblinka. »Sie sagte, sie habe gerade Abitur gemacht«, erinnert er sich. »Sie fragte, ob es lange dauert. Sie wusste Bescheid, was sie erwartet. Und ich sagte nur: Nein, es geht schnell. Dann musste sie weiter. Sie sah mich an, als ob sie sich von der Welt bereits verabschiedet hätte.«
Ruts Augen sind traurig, ihr Kopf ist bis zur Hälfte geschoren. Die Bronzefigur sieht genauso aus, wie Samuel Willenberg Rut in Erinnerung hat. Es ist eine von wenigen seiner Plastiken, die nicht anonym sind. 15 hat er bisher geschaffen, alle über Treblinka: einen Jungen, dem sein Vater die Schuhe auszieht, bevor die beiden die Gaskammer betreten; einen Kriegsveteranen ohne Bein, der erwartete, man würde ihn ehrenvoll behandeln, aber er wurde sofort erschossen; einen Maler, der die Informationstafel und einige Uhren malen musste, damit die Haltestation im Vernichtungslager wie ein normaler Bahnhof wirkte. All diese Gesichter hat Willenberg bis heute vor Augen. Weil er überleben durfte, fühlt er sich verpflichtet, alles zu tun, dass die Gesichter ohne Namen nie vergessen werden.
An manchen Tagen, wenn die hohen Kiefern rauschen, ist es in Treblinka fast idyllisch. Der Ort erinnert kaum mehr an das Nazi-Vernichtungslager, die Todesfabrik. Nur die Vögel hört man hier selbst im Frühling und im Sommer nicht, als ob sie spüren würden, was hier geschah. Zehn Monate hat Samuel Willenberg damals in Treblinka zugebracht. Vergessen hat der heute 90-Jährige auch nach sieben Jahrzehnten kein Detail.
»Hier waren die Gleise und hier die Plattform«, sagt er und zeigt mit dem Finger. »Dort die Gaskammern.« Willenberg hat alles im Kopf: den falschen Bahnhof, der den Anreisenden Hoffnung gab, das »Lazarett« mit dem roten Kreuz auf dem Zaun, hinter dem diejenigen erschossen wurden, die zu langsam zur Gaskammer gingen; die Kleiderhaufen der Menschen, die vergast wurden; und die riesigen Gräber mit den Ermordeten. Nach dem Aufstand der Häftlinge am 2. August 1943 haben die Nazis alles dem Erdboden gleichgemacht und die Spuren verwischt.
sonderkommando Eigentlich hatte Samuel Willenberg Glück. Er kam im Oktober 1942 in einem Viehwaggon nach Treblinka, mit weiteren fast 7000 Juden aus dem liquidierten Ghetto Opatow. Auf der Plattform sprach ihn einer der Arbeitshäftlinge an. Es war Alfred, ein Freund aus Kindheitstagen. Er war schon seit einigen Wochen in Treblinka. »Sag, dass du Maler bist«, flüsterte er Samuel zu. Der hatte einen Malerkittel seines Vaters dabei, das überzeugte den SS-Mann. So wurde Samuel dem Sonderkommando zugeteilt, sortierte die Sachen der Ermordeten. Als Einziger aus seinem Transport durfte er weiterleben.
Anders als die meisten, die mit ihren Familien verschleppt wurden, war Samuel allein nach Treblinka gekommen. Der Sohn eines Kunstmalers und einer Krankenschwester wurde 1923 in Tschenstochau geboren. Bei Kriegsbeginn wohnte die Familie mit ihm und seinen Schwestern Tamara und Ita in Opatow, wo der Vater in einer Synagoge malte.
Einige Monate später, als er in Treblinka die Sachen der Ermordeten sortiert, erstarrt er: ein Mantel mit grünen Streifen an den Ärmeln. Er erkennt ihn sofort. »Ich habe verstanden, dass meine Schwester Tamara vermutlich am Tag zuvor vergast wurde«, erinnert er sich. Kurz bricht seine Stimme, Tränen glänzen in seinen Augen.
In den nächsten Wochen kommen immer weniger Transporte. Die Häftlinge haben Angst, dass dies das Ende des Lagers bedeutet. Und das Ende ihres Lebens. Einige schmuggeln Waffen aus dem Arsenal, zu dem sie den Schlüssel nachgemacht haben. Andere holen sich Äxte. Als eines Tages in den Baracken der SS-Leute eine Granate explodiert, fängt Samuel Willenberg an zu laufen, genauso wie Hunderte seiner Kameraden. Sie laufen über die Leichen der Mithäftlinge, die von den Wächtern erschossen wurden.
»Die Hölle brennt«, schreit er damals endlos, während sie durch den Wald laufen. In einem Dorf gibt ihm eine Frau 20 Zlotys und ein Paar Zigaretten. »Einfach so.« Er hatte wieder Glück. Er kommt nach Warschau, findet seinen Vater und erfährt, dass seine Mutter lebt. Über den Mantel seiner Schwester verliert er nie ein Wort. Er lässt die Eltern hoffen. Er kämpft weiter, in der polnischen Untergrundorganisation, im Warschauer Aufstand 1944.
Israel Nach der Schoa lernt er Ada kennen, deren Mutter in Treblinka ermordet wurde. Sie selbst überlebte im Versteck. Die beiden heiraten und wandern nach Israel aus. Dort bekommen sie 1960 eine Tochter, Orit. Sie wird später Architektin. Mehr als 40 Jahre lang arbeitet Samuel Willenberg als Vermessungsingenieur. Im Ruhestand beginnt er sein zweites Leben als Künstler.
Er hat Angst, dass man eines Tages, ohne Zeugen, vergessen wird, was damals in Treblinka geschah. Er ist der letzte Zeuge. »Ewig werde ich nicht leben«, sagt er und schaut zufrieden auf den Grundstein für ein Bildungszentrum, den er vor ein paar Monaten gelegt hat. Er und seine Frau haben es initiiert, seine Tochter machte den Entwurf. In drei, vier Jahren soll das Gebäude fertig sein. Samuel Willenberg will das auf jeden Fall noch miterleben.