Curaçao

Der letzte Minjan

Manchmal müsse man schon genau zählen, ob die Mindestzahl von zehn Betern erreicht ist, damit der Schabbatgottesdienst in der Mikvé-Israel-Emanuel-Synagoge beginnen kann. René Levy Maduro, früheres Vorstandsmitglied der Gemeinde von Curaçao, zieht entschuldigend die Schultern hoch. Am Schabbat, da werde die Tora herausgeholt, sagt er, da müssten mindestens zehn Juden anwesend sein. Doch manchmal, wenn kein Minjan zusammenkomme, falle der Gottesdienst leider aus.

An einigen Tagen im Sommer wird es in der Synagoge von Willemstad auf der Karibikinsel Curaçao wirklich eng – aber nur im übertragenen Sinne. Das liegt an der Hitze, nicht am Platz. 600 Menschen könnten in der Synagoge gemeinsam beten, doch voll wird sie eigentlich nie. 175 Mitglieder zählt die sefardische Gemeinde in Curaçao derzeit, und es werden immer weniger, sagt Maduro. »Diese Gemeinde wird aussterben.« Zwei, drei Generationen noch – dann werde es wohl vorbei sein.

Die meisten jungen Juden verlassen die Insel. So schön es in der Karibik sein mag, es mangelt an Perspektive. Erreichen sie das Highschool-Alter, gehen sie in die USA oder in die Niederlande zum Studium, gründen eine Familie, kehren aber in der Regel nur noch für den Urlaub in die Karibik zurück. Die Berufe, die sie lernen, sind auf der Insel nicht stark genug gefragt. »Wie viele Ärzte oder Rechtsanwälte können wir hier gebrauchen?«, fragt Maduro.

Demografie Auf Curaçao leben nur rund 150.000 Menschen, so viele etwa wie in Potsdam oder Osnabrück. »Immer wieder starten Flugzeuge mit jungen Leuten in Richtung Europa«, sagt Maduro. Die meisten von ihnen werden nur noch für die Dauer eines Urlaubs zurückkehren.

Wenn man über die jüdische Gemeinde auf Curaçao spricht, spielt die Demografie eine große Rolle. Und natürlich auch die veränderte Familienplanung. Früher hätten die meisten Familien acht oder zehn Kinder gehabt, sagt Maduro. Mit Glück seien es heute noch eines oder zwei.

Der zweiten jüdischen Gemeinde, einer aschkenasischen Gemeinde, die sich in den 20er-Jahren aus osteuropäischen Flüchtlingen auf Curaçao gründete, geht es ähnlich. Ihre Mitgliederzahl liegt bei rund 75. Warum nicht einfach fusionieren, könnte man fragen. »Wir feiern einige Feste gemeinsam«, sagt Maduro. Aber die Traditionen und Riten seien für eine engere Verbindung beider Gemeinden einfach zu unterschiedlich. »Keiner würde sich auf Dauer in der anderen Gemeinde wirklich zu Hause fühlen.«

Die sefardische Gemeinde blickt auf eine stolze, mehr als 360-jährige Geschichte zurück. Seit 1651 ist sie auf der Karibikinsel ansässig. Das macht sie zur ältesten Gemeinde der westlichen Hemisphäre. Doch so genau nehmen das andere Gemeinden nicht. Weil man mit dem Attribut »älteste Gemeinde« Touristen anlocken kann, beanspruchten auch andere den Titel für sich, zum Beispiel die Gemeinde auf Barbados. Tatsächlich wurde dort 1654 eine Synagoge errichtet. Doch ein Hurrikan zerstörte sie 1831, und 1929 wurde sie entweiht und zwischenzeitlich als Bibliothek genutzt. Dass man auf Barbados dennoch lange von der ältesten Synagoge sprach, ärgert Maduro. »Man kann doch ein paar Steine nicht Synagoge nennen. Eine Synagoge ist ein Ort des Gebets«, findet er. Darum rief die Gemeinde von Curaçao Experten in den USA an, um dem Spuk ein für alle Mal ein Ende zu bereiten – und bekam Recht.

Inquisition Die Mikvé-Israel-Emanuel-Synagogue in Punda, der Altstadt von Willemstad, ist die sechste Synagoge in der Geschichte der Gemeinde. In den ersten Jahrzehnten wuchs die Gemeinde rasant. Ende des 17. Jahrhunderts zählte sie 2000 Mitglieder. Viele sefardische Juden aus Spanien und Portugal versuchten, sich vor der Inquisition in Sicherheit zu bringen. Knapp die Hälfte der weißen Bevölkerung Curaçaos war damals jüdisch. Die andere waren Beamte der Handelsgesellschaft West-Indische Compagnie. Die Gemeinde wuchs, die Synagogen wurden zu klein, man musste neue bauen oder die alten erweitern. Die Synagoge, die heute in Willemstad zu sehen ist, stammt aus dem Jahr 1732.

Gründer der Gemeinde war Samuel Coheno. Er arbeitete acht Jahre als Übersetzer für die Handelsgesellschaft, ehe er spurlos verschwand. »Niemand weiß, was aus ihm geworden ist«, erzählt Maduro. Kurz darauf kamen zunächst zwölf Familien nach Curaçao. Die West-Indische Compagnie wollte, dass sie im Inneren der Insel, dort, wo sich heute die Isla-Ölraffinerie befindet, Landwirtschaft betreiben. Doch Curaçao ist nicht fruchtbar, sondern trocken und karg. »Außerdem sind wir Juden keine Landwirte, sondern Händler«, sagt Maduro. So ließen die Juden nach einigen Jahren zähen Ringens Hacke und Spaten liegen und zogen in Richtung Stadt, um Handel zu treiben.

Die jüdischen Siedler prägten das Bild Willemstads über Jahrhunderte. Das Postkartenmotiv, die bunten Giebel der Waterfront am Eingang des Naturhafens Schottegat, würde ohne jüdische Händler nicht existieren. Im Stadtteil Scharloo bewohnten jüdische Händler ganze Straßenzüge. Die herrschaftlichen Häuser gehören heute zum UNESCO-Weltkulturerbe.

»Früher habe ich Touristen immer erzählt, die Synagoge sei aus dem Jahr 1703, aber ich habe mich dabei nie so richtig wohl gefühlt«, sagt Maduro. Erst bei genauem Nachforschen und Hinsehen fand er einige Beweise. Einer der vier Deckenleuchter, der über dem Toraschrein, weist einige Unterschiede zu den anderen dreien auf – Indiz dafür, dass der einzelne Leuchter älter ist. Eine kleine Gravur bestätigt das. Die drei anderen Leuchter kamen hinzu, als die Synagoge vergrößert wurde und ihr heutiges Aussehen erhielt – nach dem Vorbild der Portugiesischen Synagoge in Amsterdam.

Das ist kein Zufall. Die Architektur der Amsterdamer Synagoge inspirierte viele Gemeinden der Neuen Welt. New York, Jamaika, Panama – auch sie zeigen bauliche Ähnlichkeiten mit dem europäischen Vorbild.

Bedeutung Die Bedeutung der Gemeinde von Curaçao für das jüdische Leben in der Region war herausragend. Eine Zeit lang war sie die wichtigste jüdische Gemeinde in Amerika. Maduro sieht man an, dass ihn der Gedanke daran nachdenklich macht. 25 Jahre lang gehörte er selbst dem Vorstand an, seit mehr als 40 Jahren ist er aktiv, widmet einen großen Teil seines Lebens der Gemeinde. Die Vorstellung, dass es die Gemeinde in 60 oder 70 Jahren vielleicht nicht mehr geben wird, stimmt ihn traurig.

Einen Rabbiner hat die Gemeinde seit Längerem nicht mehr. Aber zumindest einen Kantor. Beides sei finanziell nicht möglich, sagt Maduro. »Wir können mit anderen Gemeinden nicht um Rabbiner konkurrieren.« Und da ein Kantor die Gottesdienste leitet, entschied man sich für den pragmatischen Weg.

Der bauliche Zustand der Synagoge ist sehr gut. In den 70er-Jahren wurde die Empore erneuert, in den 90er-Jahren die monumentale Orgel restauriert. Das gesamte Gebäude erstrahlt – außen gelb, innen weiß. Doch das kostet Geld. 35.000 bis 40.000 US-Dollar muss die Gemeinde pro Jahr aufwenden, nur um das Gebäude in Schuss zu halten. Acht Angestellte arbeiten rund um die Synagoge, sei es im kleinen Laden, im Museum oder beim Sicherheitsdienst.

Einmal im Jahr setzt sich der Vorstand zusammen und überlegt, um wie viel Geld er die Mitglieder bittet. Von der Inselregierung gibt es keine Zuschüsse, auch wenn Curaçao von der Synagoge und der Gemeinde touristisch profitiert. »Die Regierung nutzt uns für das Marketing, aber wir bekommen nichts dafür«, sagt Maduro.

Deshalb muss, wer die Synagoge besichtigt, Eintritt zahlen. Doch das alles reicht nicht aus. »Wir leben von der Substanz«, klagt Maduro. Irgendwann werden die laufenden Kosten das Vermögen, das die Vorväter der Gemeinde in mehr als 360 Jahren vermehrt haben, aufgezehrt haben. Dann gibt es noch einige Gebäude und Grundstücke, die man verkaufen kann. Doch vielleicht sind der Gemeinde bis dahin bereits die Mitglieder ausgegangen.

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