Argentinien ist eines der von der Corona-Pandemie weltweit am stärksten betroffenen Länder. Trotz eines der längsten Lockdowns der Welt erlebte das Land einen kontinuierlichen Anstieg der Infektionszahlen. Bereits Mitte Oktober wurde die Marke von mehr als einer Million Corona-Fällen im Land überschritten. Mehr als 33.000 Menschen starben bisher an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung.
»Wir haben am 20. März mit der Quarantäne begonnen. Zu Beginn war sie sehr streng«, erinnert sich Alejandro Kronik. »Bis heute sind wir in Quarantäne, aber sie ist nicht mehr so streng wie am Anfang«, so der 55-Jährige, der in Buenos Aires Massagestühle vertreibt. »Jetzt beginnt der Sommer, und viele Orte können mit Sondergenehmigungen bereist werden. In einigen ist es flexibler als in anderen.«
SYNAGOGEN Auch das Gemeindeleben ist weiterhin eingeschränkt. »Seit dem 22. Juli ist in Buenos Aires der Zutritt zu Gotteshäusern und Synagogen wieder möglich«, sagt Ariel Eichbaum, Präsident des jüdischen Gemeindezentrums AMIA (Asociación Mutual Israelita Argentina) in der argentinischen Hauptstadt.
»Zuerst war der Zutritt nur für zehn Personen erlaubt, doch seit einigen Wochen dürfen bis zu 20 Beter an den Gottesdiensten teilnehmen.« Abstand halten, das Tragen einer Mund-Nasen-Maske und Hygienemaßnahmen sind obligatorisch.
Auch der Zutritt zu den Gemeindefriedhöfen wurde in der Provinz Buenos Aires bei Einhaltung der entsprechenden Hygieneprotokolle genehmigt. »Seit März nehmen wir an regelmäßigen Treffen mit dem Regierungschef der Stadt Buenos Aires und anderen religiösen Institutionen teil, um die Auswirkungen der Maßnahmen zu analysieren«, so Eichbaum.
ZOOM Wegen des beschränkten Zugangs zu den Bethäusern verlagere sich ein Teil des Gemeindelebens ins Virtuelle, sagt Kronik. »Zu Rosch Haschana und Jom Kippur gab es sehr emotionale Gottesdienste, an denen viele Menschen über ›Zoom‹ teilnahmen.«
Er selbst gehe ohnehin selten in die Synagoge, sei dafür aber umso aktiver im Sportverein »Náutico Hacoaj«, einem der wichtigsten jüdischen Institutionen des Landes. Kronik sitzt dort im Verwaltungsrat und in anderen Kommissionen.
Viele sportliche und kulturelle Aktivitäten würden nun über Zoom und soziale Netzwerke organisiert, sagt Kronik. »Hacoaj hat unter anderem ein Sozialprogramm aufgelegt, mit dem wir Lebensmittel verteilen und bedürftigen Menschen helfen. Dabei arbeiten wir auch mit Institutionen zusammen, die nicht Teil der Gemeinde sind.«
AMIA hat ebenfalls den Umfang seiner Sozialprogramme ausgebaut, um denjenigen zu helfen, die am stärksten von der aktuellen Gesundheits-, Sozial- und Wirtschaftskrise betroffen sind.
AMIA hat ebenfalls den Umfang seiner Sozialprogramme ausgebaut, um denjenigen zu helfen, die am stärksten von der aktuellen Gesundheits-, Sozial- und Wirtschaftskrise betroffen sind. »Die schwerwiegendsten Folgen, die wir beobachten, sind Arbeitsplatzverluste und geringere Familieneinkommen.«
»Seit Beginn der Pandemie ist die Nachfrage nach sozialer Unterstützung massiv gestiegen«, sagt Eichbaum. So helfe AMIA inzwischen dauerhaft mehr als 3000 Menschen in Not. Darüber hinaus werden mehr als 800 Ältere sozial begleitet. Die Unterstützung umfasst den Versand von Lebensmitteln und Medikamenten sowie wirtschaftliche Hilfe.
»Wir haben außerdem über unsere digitalen Plattformen und sozialen Netzwerke ein Angebot an qualitativ hochwertigen Inhalten bereitgestellt, um Menschen in diesen Momenten der Isolation zu begleiten. Es gibt zum Beispiel virtuelle Kurse in den Bereichen Kultur und Jugend sowie pädagogische Inhalte, die vom Bildungsministerium für Lehrer und Schüler erstellt wurden. Außerdem bieten wir Online-Aktivitäten an, die auf Ältere zugeschnitten sind«, erzählt Eichbaum.
sozialprogramme »Es ist für uns sehr wichtig, mit anderen Organisationen der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten, vor allem mit anderen jüdischen Organisationen im Land, aber auch mit dem Staat«, ergänzt Fanny Kohon, Direktorin für die Sozialprogramme von AMIA.
»Wir betonen immer, dass unsere Hauptaufgabe darin besteht, die Menschen über die von uns geleistete Hilfe hinaus zu führen, damit sie Zugang zu den vom Staat angebotenen Leistungen erhalten.« Dabei arbeite AMIA mit Institutionen wie den jüdischen Stiftungen Tzedaká de Argentina oder der Chabad-Stiftung zusammen sowie mit jüdischen Sozialverbänden wie Nuevo Hogar LeDor VaDor oder IELADEINU, sagt Kohon. Die Vernetzung werde vom American Joint Distribution Committee unterstützt.
Zur Zahl der Corona-Fälle in der Gemeinde kann AMIA keine Angaben machen. Auch Kronik hat keine Zahlen. »Aber ich habe enge Freunde, die infiziert waren, und andere, die gestorben sind«, sagt er.
INFEKTIONSZAHLEN Generell sind die Infektionszahlen in Argentinien mit knapp 12.000 Fällen und 370 Toten täglich weiterhin hoch. Das Land sei zu stark von Lockdowns als primärem Mittel der Pandemie-Bekämpfung abhängig gewesen, sagt Adolfo Rubinstein, der 2017 und 2018 unter Präsident Mauricio Macri Gesundheitsminister des Landes war. Vor allem in den ersten Monaten der Pandemie sei nicht genügend getestet worden, kritisiert Rubinstein.
Anfangs waren bis zu 90 Prozent der bestätigten Fälle im Großraum Buenos Aires aufgetreten.
Anfangs waren bis zu 90 Prozent der bestätigten Fälle im Großraum Buenos Aires aufgetreten; heute werden zwei Drittel der Infektionen im Rest des Landes registriert. »Inzwischen ist das Virus überall im Land«, so Rubinstein.
Auch wenn das Infektionsgeschehen weiterhin kompliziert sei, würden die Corona-Beschränkungen jetzt vielerorts allmählich aufgehoben, sagt Marcelo Polakoff. Er ist seit 19 Jahren Rabbiner in Córdoba im Norden Argentiniens.
synagoge Es gebe viel sozialen Druck, dass dies geschehe. »Hier in Córdoba haben wir praktisch seit Mai die Erlaubnis, die Synagoge zur Hälfte zu füllen. In einigen Synagogen haben wir uns entschieden, Online-Gottesdienste durchzuführen; andere, vor allem kleinere Synagogen führen Präsenzveranstaltungen durch«, erzählt der 54-Jährige, der in einer relativ großen Gemeinde mit 950 aktiven Familien amtiert.
Die Gemeinde sei sehr in das Leben Córdobas integriert, betont Polakoff, beteilige sich an vielen interreligiösen Aktivitäten. Darüber hinaus versuche man, Menschen zu helfen, die in Armut leben – »und das seit vielen Jahren und nicht nur innerhalb der jüdischen Gemeinde, sondern auch darüber hinaus, beispielsweise über Volksküchen«.
Während der Pandemie sei das Engagement nochmals verstärkt worden – mit einer großen Gruppe an Freiwilligen. Als Beispiele nennt Polakoff die Telefonseelsorge oder den Einkauf von Lebensmitteln für Bedürftige.
»Die Pandemie hat deutlich gezeigt«, sagt er, »dass wir alle miteinander verbunden sind. Aber wir sind nicht nur im Schlechten verbunden, sondern auch im Guten.«