In Südkorea, einem Land ohne nennenswerte jüdische Geschichte, waren nach Schätzungen des American Jewish Yearbook 2012 nur 0,0001 Prozent der Bevölkerung jüdisch. Dennoch ist der Talmud sehr präsent in Südkorea. Er kann an Buchautomaten gekauft werden, man liest in regelmäßigen Zeitungskolumnen zu »jüdischer Erziehung« über ihn, und manchmal finden sogar »talmudische Debatten« in Schulen statt.
Obwohl Südkorea in den vergangenen Jahrzehnten ein sehr schnelles Wirtschaftswachstum verzeichnete, hat der soziale Erfolgsdruck unter vielen Südkoreanern zu psychischen Problemen geführt. Südkorea ist, jüngsten Statistiken zufolge, unter den entwickelten Nationen der Welt die zweitunglücklichste sowie die unglücklichste in Asien.
umfrage Südkorea hat zudem die höchste Suizidrate unter OECD-Ländern. Eine Umfrage von 2014 etwa ergab, dass über die Hälfte der südkoreanischen Jugendlichen Selbstmordgedanken hat. Und bedauerlicherweise ist in dieser Altersgruppe Selbsttötung derzeit die häufigste Todesursache.
Der Druck, den so viele Koreaner verspüren, beruht sicherlich auf der Erwartung, in einer temporeichen, wissensbasierten Wirtschaft erfolgreich zu sein. Südkoreas Mangel an natürlichen Ressourcen wird oft als Grund für die Betonung von Bildung angeführt. In diesem Zusammenhang besteht auch ein sehr starkes Interesse von Südkoreanern an jüdischer Bildung, insbesondere dem Talmud.
Ross Arbes berichtete im »New Yorker« über eine Schule für jüdische Erziehung in der Nähe von Seoul, in der Schüler täglich das Schma Israel auf Koreanisch rezitieren und im Unterricht »talmudische Debatten« führen. 2011 wurde Young-Sam Ma, der damalige südkoreanische Botschafter in Israel, im israelischen Fernsehen interviewt und sagte: »Das möchte ich Ihnen zeigen! Jede koreanische Familie hat mindestens eine Kopie des Talmuds. Koreanische Mütter wollen wissen, wie so viele Juden zu Genies wurden. 23 Prozent der Nobelpreisträger sind Juden. Koreanische Frauen wollen das Geheimnis wissen. Sie haben das Geheimnis in diesem Buch gefunden.«
Die israelische Online-Zeitung »Arutz Sheva« beschreibt Südkorea als ein Land, in dem mehr Menschen den Talmud lesen oder zumindest ein Exemplar davon zu Hause haben als in Israel.
japan Aber ob diese koreanischen Kurzfassungen des Talmuds vergleichbar sind mit der Originalsammlung von Schriften, ist höchst fragwürdig. Man könnte argumentieren, dass nicht der gesamte Talmud wörtlich verstanden werden soll. Wenn man den Talmud in tannaitischem Hebräisch und jüdisch-babylonischem Aramäisch studiert, fallen einem die Spezifität der diskutierten Szenarien in Bezug auf Opfer und rituelles Schlachten, Kommentare zum jüdischen Zivil- und Strafrecht oder juristische Rezitationen auf. Es ist daher ziemlich überraschend, dass so viele Südkoreaner aus dieser Textsammlung so viel Wert für ihr Leben ziehen.
Südkoreaner haben aber zumeist kein Interesse am Judentum an sich. Sie interessieren sich nur für den Talmud als ein Instrument, um sich weiterzubilden.
Der Talmud wurde in Südkorea zum ersten Mal von Rabbi Marvin Tokayer populär gemacht. In vielen Talmud-Veröffentlichungen wird er als Autor genannt, und auf den Titelseiten vieler Ausgaben ist er abgebildet. Sein erstes, 1971 in Japan veröffentlichtes Buch mit dem Titel Five Thousand Years of Jewish Wisdom: Secrets of the Talmud Scriptures wurde angeblich in nur drei Tagen geschrieben und hat allein in Japan etwa 70 Auflagen erfahren und etwa eine halbe Million Exemplare verkauft.
Danach veröffentlichte Tokayer mehr als 20 Bücher über das Judentum, hauptsächlich für den japanischen Markt. Die meisten dieser Bücher übersetzte Hideaki Kasei, da Tokayer weder Japanisch noch Koreanisch spricht. Hideaki Kasei wurde später Vorsitzender der »Gesellschaft zur Verbreitung historischer Fakten«, die japanische Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg bestreitet.
Man muss nur einige von Tokayers Veröffentlichungen durchsehen, wie zum Beispiel There is no Education in Japan: The Jewish Secret of Educating Geniuses, um zu sehen, wie er das Judentum kommerzialisiert hat. Nach seinem Erfolg in Japan wanderten seine Werke nach Südkorea und in andere Teile Ostasiens.
In den 70er-Jahren begannen auch andere Verlagshäuser, Bücher über den Talmud zu veröffentlichen, die denen von Tokayer ähnelten. Viele davon enthalten mehr Cartoons von Menschen vor Kirchen als Text. Ross Arbes berichtet von einem Besuch bei Jung Wan Kim, einem PR-Manager und Talmud-Lehrer. Dieser trug eine violette Kippa. Das sei sein Markenzeichen, »damit die Leute wissen, dass ich ein Talmud-Experte bin«.
EISSCHNELLLÄUFER Fast jede Buchhandlung in Südkorea hat etliche Kopien vom »Talmud« im Sortiment. In der Tat ist es schwierig, jemanden in Südkorea zu finden, der nicht mindestens vom Talmud gehört hat. Der Eisschnellläufer Lee Kyou-Hyuk, der bei den Olympischen Spielen 2014 die südkoreanische Flagge trug, empfahl seinen Fans beispielsweise den Talmud: »Ich lese den Talmud jedes Mal, wenn ich eine schwere Zeit durchmache. Es hilft mir, meine Gedanken zu beruhigen.«
Auf die Frage, wie ein uraltes Buch über jüdisches Recht bei Südkoreanern so beliebt sein kann, wird in den meisten Fällen der Begriff »Weisheit« genannt. Dieser Eindruck entsteht auch bei einem Spaziergang durch das unterirdische Einkaufszentrum im Stadtteil Gangnam in Seoul, in dem sich eine »Schule der Talmud-Weisheit« gegenüber einer Reinigung befindet. Über die Hälfte der 800 Bücher, die in der südkoreanischen Nationalbibliothek als »Talmud« eingestuft sind, sind Kinderbücher.
Und Versionen des Talmuds sind in den vorgeschlagenen Leselisten vieler Grundschulen in Südkorea enthalten. Viele Koreaner scheinen zu glauben, dass das Lesen dieser Bücher den IQ ihrer Kinder irgendwie verbessern würde. Das sehr beliebte Genre des »vorgeburtlichen Talmud« weist darauf hin. Diese Bücher sollen angeblich die Gehirnentwicklung im Mutterleib unterstützen.
instrument Südkoreaner haben aber zumeist kein Interesse am Judentum an sich. Sie interessieren sich nur für den Talmud als ein Instrument, um sich weiterzubilden. Es gibt ein sehr starkes Interesse an jüdischer Bildung, Südkoreaner interessieren sich aber nicht für jüdische Kultur oder Geschichte, sondern nur für die Art und Weise, wie jüdische Menschen angeblich Bildung praktizieren.
Tatsächlich weiß die Hälfte der Südkoreaner nicht einmal über den Holocaust Bescheid, während 32 Prozent derjenigen, die davon gehört haben, der Aussage zustimmen: »Der Holocaust ist passiert, aber die Zahl der Juden, die dabei starben, ist übertrieben.« Nur 28 Prozent der Südkoreaner kennen die Schoa und verstehen sie als eine historische Tatsache. Südkorea hat auch kein einziges jüdisches Museum.
Juden sind zu einer Marke in Südkorea gemacht worden. Während die Bildungsindustrie in Südkorea Juden sehr positiv darstellt, kann das aber zu Missverständnissen und Erwartungen führen, die von diesen nicht erfüllt werden können. Auch können Koreaner sie nicht erreichen, indem sie versuchen, den Code einer imaginären geheimen Lerntechnik zu knacken, die Juden angeblich praktizieren würden.
stereotyp Koreaner könnten nicht nur enttäuscht sein, dass das Studium dessen, was sie für den Talmud halten, sie nicht zum Erfolg führt. Dieses Stereotyp könnte sie sogar zu dem Glauben verleiten, dass Juden besondere Kräfte und Weisheiten, die sie selbst gerne hätten, auf eine gefährliche Art und Weise nutzen. Das könnte insbesondere in einem Land wie Südkorea der Fall sein, in dem Juden in den Köpfen der Menschen reine Abstraktionen sind, ohne dass es eine nennenswerte echte jüdische Präsenz im Land gibt.
Die Hälfte der Südkoreaner weiß nichts über die Schoa.
Eine Umfrage der Anti-Defamation League (ADL) hat ergeben, dass Südkorea mit einer Quote von 53 Prozent zu den antisemitischsten Ländern der Welt gehört. Im Vergleich dazu liegt der Iran bei 60 Prozent, andere Länder in der Region aber deutlich niedriger, etwa Japan mit 23 Prozent. Die »Times of Israel« berichtete über den ehemaligen südkoreanischen Botschafter in Marokko, Jae-Seon Park, der über Juden sagte: »Sie greifen sich die Devisenmärkte und Finanzinvestitionsunternehmen.«
Und: »Ihr Netzwerk ist unvorstellbar eng gestrickt.« Am Tag nach dieser Erklärung zitierte YTN, ein koreanischer Kabelkanal für Nachrichten und aktuelle Ereignisse, den Wirtschaftsforscher Bag-Nee Kim: »Es ist eine Tatsache, dass Juden finanzielle Netzwerke nutzen und Einfluss haben, wo immer sie zur Welt kommen.«
macht Und die südkoreanische Finanzpublikation »MoneyToday« schrieb: »Einer Quelle aus der Finanzbranche zufolge verfügen Juden über ein robustes Netzwerk, das ihren Einfluss auf eine Reihe von Gebieten unter Beweis stellt.« Das südkoreanische »Mediapen« schrieb, dass »Juden an der Wall Street und in globalen Finanzkreisen enorme Macht ausüben« und dass die US-Regierung von jüdischem Kapital beeinflusst wird. »Jüdisches Geld«, hetzten sie, »ist seit Langem als rücksichtslos und gnadenlos bekannt.«
In diesem Zusammenhang erwähnenswert ist auch die berüchtigte koreanische Vereinigungskirche von Sun Myung Moon, deren Anhänger von einigen Leuten als »Moonies« bezeichnet werden. Die Vereinigungskirche proklamierte, dass Juden ihren Status als auserwähltes Volk verloren hätten, seit der neue Messias, Sun Myung Moon, in Korea geboren worden sei. Und Moon selbst hetzte, dass die jüdischen Opfer des Holocaust Entschädigung für die Kreuzigung Jesu gezahlt hätten.
In der südkoreanischen Stadt Busan gab es eine »Adolf Hitler Techno Bar & Cocktail Show«. Nach Kritik wurde sie in »Ddolf Ditler Techno Bar & Cocktail Show« umbenannt. In Seoul änderte eine Bar namens »Third Reich«, die im Nazi-Stil eingerichtet wurde, ihren Namen nach Protest der deutschen sowie der israelischen Botschaft in »Fifth Reich«, bis sie schließlich geschlossen wurde.
Enttäuschung In einer derart antisemitischen Gesellschaft ist die Kommerzialisierung des Judentums besonders gefährlich. Südkorea ist wie viele andere Länder mit einer Bildungsinflation konfrontiert, in der viele gut ausgebildete, vielleicht sogar »zu gut« ausgebildete Studenten für die größten südkoreanischen Konglomerate, die sogenannten Chaebols, wie Samsung und LG Electronics arbeiten möchten.
Trotz aller Bemühungen finden die meisten von ihnen keine Arbeit, die ihrem Bildungsniveau entspricht. Diejenigen, die bei diesem Wettbewerb um die besten Jobs keinen Erfolg haben, werden dann zu Bürgern zweiter Klasse mit geringeren Beschäftigungs- und Heiratsmöglichkeiten. Die Folge ist, dass Depression und Suizide, Ärger und Frustration in der koreanischen Gesellschaft vor allem unter jungen Menschen zunehmen.
Südkorea entwickelt sich zunehmend zu einer extrem ungleichen und instabilen Gesellschaft, in der sich der Wohlstand auf die Chaebols konzentriert und es für jüngere Menschen immer unwahrscheinlicher wird, eine erfüllende Beschäftigung zu finden – wenn überhaupt. Zu befürchten ist, dass am Ende ein Teil der Enttäuschung über das falsche Versprechen, dass das südkoreanische Bildungssystem ihnen gemacht hat, auf den Talmud zurückgeführt wird.
Der Autor ist Jurist und promovierter Politologe. Sein Buch »Zen Judaism: The Case Against a Contemporary American Phenomenon« erschien dieses Jahr bei Palgrave Macmillan.