Sport

»Der Kleine« sagt Adiós

»Ich habe hier große Schlachten geschlagen«: Diego Schwartzman bei seinem letzten Grand-Slam-Tennisturnier am 22. Mai im Pariser Stade Roland Garros Foto: picture alliance / DPPI media

Mit einem krachenden Aufschlag, bei dem der Tennisball mit 209 Stundenkilometern durch die Mitte schoss, verwandelte Lokalmatador Quentin Halys nach mehr als drei Stunden Spielzeit den zweiten Matchball. Seinem Kontrahenten Diego Schwartzman blieb nichts anderes übrig, als dem Ball hinterherzublicken und dem Franzosen am Netz zu gratulieren.

Einige Wochen ist es her, dass sich Schwartzman nach langem Kampf im Tiebreak des Entscheidungssatzes in der zweiten Runde der French-Open-Qualifikationsrunde auf der Anlage im Bois de Boulogne in Paris knapp geschlagen geben musste. »Ich denke, ich habe gutes Tennis gespielt heute«, sagt der 31-Jährige offensichtlich geknickt, aber Halys habe »wohl verdientermaßen gewonnen. Er hat im Super-Tiebreak und in den entscheidenden Momenten einfach besser gespielt als ich«.

Standing Ovations

Wieder einmal hatte es wie so oft für den seit Jahren besten jüdischen Tennisprofi nicht gereicht – wenn auch nur knapp. Trotzdem wurde Schwartzman nach dem Match mit Standing Ovations vom Publikum gefeiert. Es war wie eine kleine Hommage – schließlich sollte es sein allerletzter Auftritt in dem Tenniskomplex Stade Roland Garros am Rand des Bois de Boulogne sein.

Er machte fehlende Körpergröße durch intelligentes Spiel und Einsatzdynamik wett.

Dem Argentinier kamen sogar ein paar Tränen. Er sprach mit stockender Stimme zu seinen Fans und blickte auf all die besonderen Momente zurück, die er in mehr als einem Jahrzehnt als Teilnehmer bei den French Open erlebt hatte. »Ich habe hier große Schlachten geschlagen. Das Spiel im Roland Garros war schon immer ein ganz besonderes Turnier für mich, und dies ist auch ein spezieller Abschied.«

Dabei erinnerte Schwartzman an seinen großen Erfolg im Viertelfinale 2020 gegen die damalige Nummer drei in der Weltrangliste, den Österreicher Dominic Thiem, den er in mehr als fünf Stunden Spielzeit in fünf Sätzen niederrang. Im Halbfinale unterlag er dann aber dem in Paris quasi unbesiegbaren Spanier Rafael Nadal.

Beide – Thiem und Nadal – erlebten in diesem Jahr ebenso wie Schwartzman ihren letzten Auftritt im Stade Roland Garros. Ex-US-Open-Champion Dominic Thiem verlor wenige Stunden vor Schwartzman ebenfalls in der zweiten Qualifikationsrunde. Und der aufgrund einiger Verletzungen in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkte Sandplatzkönig Rafael Nadal dürfte nach seiner Niederlage gegen Alexander Zverev in der ersten Runde wohl ebenfalls sein finales Match in Paris gehabt haben.

Vor allem mit Nadal verbindet Schwartz­man eine ganz besondere Beziehung. Nach einer Niederlage gegen den Spanier im Viertelfinale von Monte Carlo 2017 fragte Schwartzman ihn nach seinem Trikot und ließ es sich signieren. Bis heute hängt es in seiner Wohnung in Buenos Aires an der Wand. Fünfmal erreichte Schwartzman die zweite Turnierwoche bei den French Open – und immer war bei den Spielen gegen Novak Djokovic oder eben den Spanier Schluss.

Schwartzmans Lieblings-Grand-Slam-Turnier

Roland Garros ist Schwartzmans Lieblings-Grand-Slam-Turnier. Als er vor vier Jahren hier das Halbfinale erreichte, war der »nur« 1,70 Meter große Schwartzman der kleinste Spieler in der Vorschlussrunde des Wettbewerbs seit den Auftritten des ebenfalls jüdischen Amerikaners Harold Solomon, der sogar noch ein paar Zentimeter kleiner ist und 1980 im Halbfinale der French Open stand.

Nach der Niederlage im Halbfinale gegen Nadal war Schwartzman die Nummer acht in der Weltrangliste – seine höchste Platzierung überhaupt. Mittlerweile kann er mit der ersten Liga der Tennisspieler nicht mehr mithalten. Aus den Top 100 gerutscht, belegt Schwartzman aktuell Rang 141. In diesem Jahr hat er bei sieben Turnierteilnahmen noch kein einziges Match im Hauptfeld eines ATP-Turniers gewonnen.

Nicht zuletzt deshalb kündigte »El Peque«, der Kleine, wie Schwartzman wegen seiner geringen Körpergröße auch genannt wird, Anfang Mai auf Instagram seinen Rücktritt an. Er habe jede Sekunde Training und jeden gewonnenen Punkt im Wettkampf »mit einer solchen Intensität gelebt, dass es mir heute schwerfällt, das beizubehalten. All diese schönen Momente sind zu etwas geworden, das heute eine Menge wiegt, und es fällt mir schwer, sie weiterhin in vollen Zügen zu genießen«, schrieb er.

Er könne das Spielen und Reisen nicht mehr so genießen wie früher, sagt er.

Er könne das Spielen und Reisen nicht mehr so genießen wie früher. »Ich möchte, dass meine letzten Turniere meine eigene Entscheidung sind«, fügte er hinzu – wohl auch deshalb, weil er sich den Schlusspunkt der Karriere nicht irgendwann von seinem Körper diktieren lassen möchte, wie er es bei einigen Kollegen gesehen hat.

Schwartzman dankte seinen Trainern, Konkurrenten, Mannschaftskameraden sowie Freunden, seinen Brüdern und Eltern. »Von klein auf sind wir hoch geflogen und haben uns als Familie Träume erfüllt, und ohne euch wäre das alles nicht möglich gewesen.«

Aufgewachsen in einer jüdischen Familie in Buenos Aires

Als jüngstes von vier Geschwistern ist Diego Schwartzman in einer jüdischen Familie in Buenos Aires aufgewachsen. Seine Vorfahren kamen aus Deutschland, Polen und Russland. Sie flohen während der Schoa nach Südamerika.

Über die Geschichte seiner Familie zu Zeiten des Holocaust hat er ein Buch geschrieben. So sollte sein Urgroßvater mütterlicherseits, der aus Polen stammte, nach Auschwitz deportiert werden. Er konnte aber entkommen, weil unterwegs die Kupplung brach, die die Waggons des Deportationszugs miteinander verband. Der Waggon mit Schwartzmans Urgroßvater blieb deshalb auf der Strecke zurück. Dieser rannte um sein Leben und entkam, ohne gefasst zu werden.

»Mein Urgroßvater brachte seine Familie mit dem Schiff nach Argentinien. Als sie ankamen, sprachen sie Jiddisch und kein Wort Spanisch. Die Familie meines Vaters stammte aus Russland und gelangte auf dem gleichen Weg nach Argentinien. Es war für sie alle nicht leicht, ihr Leben nach dem Krieg völlig neu zu beginnen. Sie schafften es aber trotzdem«, erzählte Schwartzman einmal.

Seinen Vornamen erhielt er zu Ehren von Diego Armando Maradona. Wie viele Argentinier ist Diego Schwartzman ein großer Fußballfan. Immer wenn es der Turnierplan erlaubt, was nicht oft der Fall ist, macht er einen Abstecher ins Stadion seines Lieblingsklubs Boca Juniors. Als Junge kickte er für den Club Social Parque, den Verein, in dem früher auch sein Idol Juan Román Riquelme spielte.

Im Alter von sieben Jahren meldeten ihn die Eltern im örtlichen Tennisverein an

Zum Tennis kam Schwartzman durch seine Mutter Silvana, die selbst auf Amateurniveau spielte. Im Alter von sieben Jahren meldeten ihn die Eltern im örtlichen Tennisverein an, dem Club Náutico Hacoaj im Stadtteil Tigre von Buenos Aires. Dieser Verein war in den 1920er-Jahren von und für Juden gegründet worden. Damals waren Juden von anderen Klubs in der argentinischen Hauptstadt ausgeschlossen.

Bald schon sah man den kleinen Diego dort stundenlang mit seinem Vater Ricardo Bälle schlagen. Bereits als Kind hatte Schwartzman wohl ein »unglaubliches Timing«, wie sich seine Eltern erinnern. Obwohl er kaum übers Netz schauen konnte, wollte er nie mit einem Juniorenschläger, sondern immer mit dem großen Racket für Erwachsene spielen.

Im Alter von 13 Jahren teilten ihm die Ärzte mit, dass er wohl kaum größer als 1,70 Meter werden würde. Deprimiert von der Prognose wollte er mit dem Tennisspielen aufhören. Doch die Eltern überzeugten ihn, für seinen Traum zu kämpfen. Und tatsächlich, im Alter von 17 Jahren wurde Diego Schwartzman Tennisprofi. Um die Reisen zu den Turnieren in der ersten Zeit zu finanzieren, verkaufte die Familie, deren Modegeschäft in den 90ern pleitegegangen war, Armbänder mit den Wappen und Namen beliebter Fußballklubs.

Seine Vorfahren flohen während der Schoa aus Europa und kamen nach Südamerika.

Durch seinen Erfolg bei Turnieren hat Diego Schwartzman mittlerweile einige Millionen Dollar Preisgeld einstecken können. »Von meinem Vorfahren, der aus einem Zug auf dem Weg in ein Konzentrationslager entkommen konnte, bis hin zur Unterbringung in winzigen Hotelzimmern und dem Verkauf von Armbändern – ich glaube, ich kann mich glücklich schätzen«, erklärt er rückblickend nicht ohne Stolz.

Im Laufe seiner Karriere machte Schwartzman die geringe Körpergröße durch intelligentes Spiel und ein hohes Maß an Einsatzdynamik mit hoher Laufbereitschaft wett. »Manchmal hilft es, groß zu sein, weil man sehr schnell aufschlagen kann. Auch kann man von der Grund­linie härter schlagen, weil die Arme oftmals länger sind als meine. Aber ich war schon immer so und habe immer versucht, besser zu werden, ohne darüber nachzudenken, wie groß ich bin«, sagte er einmal.

»Tennis hat mir alles gegeben, was ich habe, und noch viel mehr«

In seiner Ankündigung, sich vom professionellen Sport zu verabschieden, blickt Schwartzman fast schon wenig wehmütig zurück. »Tennis hat mir alles gegeben, was ich habe, und noch viel mehr, was ich für immer in mir tragen werde. Es war eine wunderbare Reise«, schrieb er. »Mein Pelotita (Spanisch für Tennisball), was kann ich dir zum Abschluss sagen …? Du hast mich dazu gebracht, viel zu laufen, zu lachen, zu weinen, zu reisen und viele Orte kennenzulernen. Du hast mir so viel gegeben, und es ist nun wohl an der Zeit weiterzugehen. Wir sehen uns bis zum letzten Tropfen Schweiß. Als Profi muss ich bis zum letzten Moment auf dem Platz bleiben, El Peque.«

Anfang kommenden Jahres soll nun endgültig Schluss sein. Beim Heimturnier in Buenos Aires, das am 10. Februar 2025 beginnt, wird Schwartzman zum letzten Mal aufschlagen. Im Jahr 2021 hatte er das Turnier noch gewonnen. Hinzu kommen drei weitere Turniersiege: in Istanbul 2016, in Rio de Janeiro 2018 und in Los Cabos 2019. Neben der Teilnahme im Halbfinale bei den French Open erreichte er auch zweimal das Viertelfinale der US Open, 2017 und 2019.

Die jüdische Gemeinde in Argentinien ist stolz auf ihr sportliches Aushängeschild.

Die jüdische Gemeinde in Argentinien ist stolz auf ihr sportliches Aushängeschild. Im Dezember 2021 weihte der jüdische Sportverein Hacoaj einen neuen Tenniskomplex ein und benannte den zentralen Platz nach Diego Schwartzman. »Das macht mich sehr glücklich, weil ich hier angefangen habe, Tennis zu spielen«, so Schwartzman gegenüber der jüdischen Nachrichtenagentur »Jewish Telegraphic Agency« anlässlich der Veranstaltung. »Ich bin sehr dankbar, hier bei der Namensgebung des zentralen Platzes dabei zu sein. Es ist etwas ganz Besonderes, ich versuche, den Moment zu genießen.«

So wie er eine gesamte Karriere genossen hat. »Was für eine Reise! Wie viele Momente, die ich mir nie hätte vorstellen können, wie viele Anekdoten, die ich mir nie hätte träumen lassen, wie viele Menschen, die ich getroffen habe, die mir geholfen haben, zu bestehen, die mir so viel beigebracht haben, die mich zu einem viel besseren Spieler und Menschen gemacht haben, als irgendjemand jemals gedacht hätte, mich eingeschlossen«, schreibt Schwartzman in seinem Abschiedspost.

Und so war er auch nach der Niederlage gegen Halys in seinem letzten Auftritt in Roland Garros mit sich im Reinen. »Dieses letzte Match zeigt, wie ich in meiner gesamten Karriere gespielt habe, besonders in Roland Garros. Selbst gegenüber einem Franzosen habe ich mich hier immer wie zu Hause gefühlt. Um ehrlich zu sein, fühle ich mich großartig. Ich habe das getan, was ich am besten kann, und zwar hart kämpfen, um das Match zu gewinnen, aber er (Halys) hat den Sieg verdient. Herzlichen Glückwunsch an das gesamte französische Publikum«, sagte er, bevor er unter Applaus und »Diego, Diego«-Rufen des Publikums den Platz verließ.

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