Unübersehbar groß prangen die schwarzen Lettern an der Warschauer Hauswand: »Tesknie za Toba, Zydzie!« Manche Passanten verlangsamen ihren Schritt, bleiben stehen, sichtbar irritiert, und drehen sich Rat suchend um. »Ich sehne mich nach dir, Jude!« Kommt jemand den Weg entlang, deuten sie auf die Graffiti: »Ist das antisemitisch oder nicht?«
In ganz Polen steht dieser Satz plötzlich an Hauswänden und Mauern. Dort, wo normalerweise antisemitische Parolen prangen wie »Hau ab, Jude!«, »Ab ins Gas, Jude!« oder »An den Galgen, Jude!«. An diese Schmierereien haben sich die meisten Polen schon gewöhnt, auch an die hässlich hingesprühten Davidsterne oder Galgen. Gleichgültig gehen sie an ihnen vorbei. Doch der Satz »Ich sehne mich nach dir, Jude!« ist neu und zunächst verstörend.
Rafal Betlejewski ist Aktionskünstler. Der heute 41-Jährige kann sich nicht erinnern, in seiner Kindheit oder Jugend je einen Juden gesehen oder von Juden gehört zu haben. Selbst auf dem obligatorischen Schulausflug nach Auschwitz war ihm nur von Polen als Nazi-Opfern erzählt worden. »Wir verbinden das Wort ›Jude‹ fast ausschließlich mit den antisemitischen Straßen-Graffiti«, sagt er. Außerdem mit antisemitischen Witzen und der festen Überzeugung, dass »die Juden« zu viel Einfluss in den Medien hätten und ständig über den Holocaust jammerten. Mit der Zeit habe »Jude« eine so negative Konnotation in Polen angenommen, dass sich kaum noch jemand traue, das Wort auch nur auszusprechen. Schließlich wolle man nicht als Antisemit gelten. Aber das sei Unsinn. Man dürfe den Antisemiten nicht das Feld überlassen.
zuspruch Während viele ratlos vor den Graffiti stehen und nicht wissen, wie der hingesprühte Satz zu verstehen ist, melden sich immer mehr Polen bei Betlejewski, um sich neben einem leeren Stuhl fotografieren zu lassen. Manchmal liegen auf dem Stuhl ein weißes Lammfell und eine schwarze Kippa. So ließ sich der Künstler selbst vor mehreren Häusern fotografieren, in denen vor dem Krieg Juden lebten. Betlejewski sitzt da, die Beine übereinander geschlagen, doch der Stuhl neben ihm ist leer. Vielleicht kommt noch jemand. Vielleicht auch nicht. Unter dem Foto steht im Stil der Mauergraffiti der Satz: »Ich sehne mich nach dir, Jude!« Auf der Website www.tesknie.com, die am ersten Tag der Aktion noch ziemlich leer wirkte, hinterlassen immer mehr Polen ihre Fotos und persönlichen Erinnerungen an Juden aus der Nachbarschaft.
»Betlejewski geht ein großes Risiko ein«, lobt Piotr Kadlcik, der Vorsitzende des Jüdischen Gemeindebundes in Polen, den Aktionskünstler. »Es gehört Mut dazu, den Kampf mit dem Straßen-Antisemitismus aufzunehmen.« Auf die Idee selbst musste erst einmal jemand kommen. »Diese Aktion spricht auch Leute an, die in kein Museum gehen, die keine Bücher und keine Zeitungen lesen. Und das sind in Polen sehr viele Menschen.«
befremden Bella Szwarcman von der jüdischen Kulturzeitschrift Midrasz hingegen ist skeptisch: »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich selbst würde den Satz ›Ich vermisse dich, Pole!‹ oder ›Ich vermisse dich, Katholik!‹ nie sagen. Mir sind solche Sätze sehr fremd.« Dennoch hält auch sie dem Künstler zugute, das Wort »Jude« aus der antisemitischen Schmuddelecke zu holen. »Ob Straßengraffiti der richtige Weg sind, weiß ich nicht. Man muss abwarten, ob sich die Antisemiten einfach so ihre Wände und Mauern wegnehmen lassen.«
Die Schriftstellerin Magdalena Tulli wiederum, die aus einer polnisch-jüdischen und italienischen Familie stammt, wirft einen eher analytischen Blick auf die Aktion: »Hier nimmt ein Pole, der Bücher über den Antisemitismus in seinem Land gelesen hat, den Dialog mit den Straßenantisemiten auf.« Viele Polen nehmen seine Aktion positiv auf. Mit dem Satz oder auch dem Stuhl könne man dem Gefühl der Leere Ausdruck verleihen, ohne sich selbst gefühlsmäßig allzu sehr zu engagieren. Nach einer Weile setzt sie hinzu: »Mein Herz schlägt nicht höher, wenn mich eine Wand anschreit: ›Ich sehne mich nach dir, Jude«.
Die bisherigen Kunstaktionen, die an das einst pulsierende jüdische Leben in Polen erinnern und auch Trauer hervorrufen sollten, liefen meist ins Leere, da es im Gedächtnis der meisten Polen keinerlei Anknüpfungspunkte mehr gibt. Betlejewskis Projekt mit seiner Mitmach-Aufforderung hingegen mobilisiert zum ersten Mal in ganz Polen Menschen, sich darüber Gedanken zu machen, ob vielleicht in dem Ort oder sogar in dem Haus, in dem man wohnt, einmal Juden gelebt haben könnten. Manche lassen sich dann mit einem leeren Stuhl fotografieren und stellen das Foto zusammen mit einer kleinen Geschichte ins Internet. Ein Jahr lang soll die Kunstaktion dauern, die am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, begann. Bis dahin wächst die Website von Tag zu Tag.