Frau Kahane, Sie waren am Wochenende bei einer Antisemitismus-Konferenz in Istanbul. Es war die erste Veranstaltung dieser Art in der Türkei. Wer kam da zusammen?
Die meisten Teilnehmer waren Menschenrechtsaktivisten, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Aber es waren auch Mitglieder türkisch-jüdischer Gemeinden da.
Wie leicht fällt es Juden in der Türkei, öffentlich über ihre Situation zu sprechen?
Es gibt die Kultur der Erwartung, die Juden müssten dem jeweiligen Herrscher dankbar sein, dass sie überhaupt da sein dürfen. Das ist sehr tief verwurzelt. Ich kann mich an Zeiten erinnern, in denen es sehr schwierig war, von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde Istanbuls Auskunft über den Antisemitismus zu bekommen. Sie wollten nicht darüber sprechen. Inzwischen hat der Judenhass aber derart zugenommen, dass man anfängt, darüber zu sprechen. Ein Teilnehmer sagte: Wir hören auf zu kuschen. Jetzt ist Schluss mit der Vorsicht! Wir halten es nicht mehr aus.
Wie kommt es dann aber, dass man gelegentlich hört, die Türkei sei ein traditionell judenfreundliches Land?
Das ist die Selbstbeschreibung der Türkei. Da beruft man sich auf osmanische und kemalistische Zeiten. Und man erzählt die Geschichte, dass während des Holocaust jüdische Flüchtlinge aufgenommen wurden, die dann später nach Israel auswandern durften. Man habe sich immer sehr großzügig und hilfsbereit gezeigt. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Parallel dazu gab es in der Türkei immer eine antisemitische Grundstimmung, die so selbstverständlich war, dass man sie überhaupt nicht wahrgenommen hat. Die normative Legende vom judenfreundlichen Land hat so lange funktioniert, bis sich Erdogan mit Israel überwarf. In der Zeit davor war auch Israel daran interessiert, diese Legende mitzutragen, weil dem jüdischen Staat an guten Beziehungen zur Türkei lag. Aber inzwischen sind alle Hüllen gefallen: Jetzt ist der Hass offensichtlich.
Wie frei fühlten sich die Konferenzteilnehmer? Bestimmt war doch auch ein Vertreter des Geheimdienstes mit im Raum.
Das war allen ziemlich klar. Aber das ist immer das Risiko, wenn es um Menschenrechte geht.
Was hat die Tagung bewegt?
Alle waren beseelt davon, dass sie sich das getraut haben. Für viele war es eine Befreiung, endlich darüber sprechen zu können.
Mit der Vorstandsvorsitzenden der Amadeu Antonio Stiftung sprach Tobias Kühn.