Er blickt ins Leere, nichts soll ihn ablenken. Konzentriert sitzt Dennis Weinmann auf einem Hocker, sein Rücken ist kerzengerade. Mit beiden Händen berührt er den Hinterkopf eines Mannes, der vor ihm auf der Pritsche liegt. Mehrere Minuten verharren seine Hände dort.
Nach einem kurzen Vorgespräch hat er sich ans Kopfende des Mannes gesetzt, um, wie er sagt, »energetisch an ihm zu arbeiten«.
Dennis Weinmann ist 40 Jahre alt, er trägt ein dunkelblaues T-Shirt und eine weite Hose aus Baumwollstoff.
Der gebürtige Wiener lebt in einem großen Mietshaus in der Leopoldstadt. Die Gegend wird, weil hier viele Juden leben, auch Mazzesinsel genannt. Im Erdgeschoss betreibt Weinmann eine Praxis für Cranio-Sacral-Therapie. Wenn er davon spricht, sagt er nur »Cranio«.
VERFAHREN Der Begriff leitet sich von den lateinischen Wörtern für Schädel (Cranium) und Kreuzbein (Sacral) ab. Dabei werden Bereiche des Schädels und des Nackens, aber auch des Brustkorbs, der Wirbelsäule, des Beckens oder der Füße, auf besondere Art berührt. Das Verfahren beruht auf der Annahme, dass sich das Pulsieren der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit auf die äußeren Gewebe sowie auf Knochen überträgt und demnach ertasten lässt.
»Ich sende Energie an den Menschen vor mir – und bekomme Energie von ihm.«
Dennis Weinmann
Die Cranio-Sacral-Therapie hat sich aus der Osteopathie entwickelt, einer Ende des 19. Jahrhunderts von dem Landarzt Andrew Taylor Still im Mittleren Westen der USA begründeten Behandlungsform.
Dabei versucht der Therapeut, mit seinen Händen Funktionsstörungen am Körper des Patienten zu beheben. Grundlage dafür ist das Verständnis sogenannter Faszien, dünner Bindegewebshüllen, die jede Struktur des Körpers umgeben. Der Osteopath folgt ihnen mit seinen Händen und gelangt so von einer Körperstruktur zur nächsten.
»Cranio ist ein wenig anders, wir arbeiten energetisch«, sagt Weinmann. »Ich sende Energie an den Menschen, der vor mir liegt, und bekomme Energie von ihm.« Er fühle mit den Händen und schicke Energie mit den Händen. Das sei wie ein sechster Sinn. »Ich triggere den Körper, sich selbst zu heilen.«
»Die Schädelknochen bewegen sich«, sagt Weinmann. »Und ich spüre, ob die Bewegung richtig ist.«
Frauen und Männer fast jeden Alters kommen zu Weinmann, um sich helfen zu lassen – bei Kopf- oder Rückenschmerzen, Verspannungen, Hautkrankheiten, Schlafstörungen, Stress oder nach Unfällen.
Manchmal arbeitet Weinmann auch mit Tieren, vor allem mit Hunden und Katzen. Mit Pferden würde er auch gern arbeiten, sagt er. Doch wer sollte mitten in Wien mit einem Pferd zu ihm kommen?
»Natürlich muss es die Wissenschaft geben«, sagt Weinmann. »Aber es gibt eben auch Dinge jenseits der Wissenschaft.«
Am Anfang war er skeptisch, das mit den Tieren auf seine Website zu schreiben. »Manche Leute könnte das abschrecken, befürchtete ich. Denn wer will schon mit seinem Leiden zu jemandem gehen, der auch mit Tieren arbeitet?«
VORGESCHICHTE Einige Zeit ist es her, da lag Dennis Weinmann selbst auf der Pritsche. Nach stressigen Arbeitsjahren im Hotelmanagement hatte er einen Burn-out und kurz darauf einen Bandscheibenvorfall. »Mir war klar, dass mich der Job kaputt gemacht hatte«, sagt er. Durch eine Bekannte entdeckte er die Cranio-Sacral-Therapie, merkte, wie sie ihm half, begann eine Psychotherapie und suchte nach einem neuen Beruf.
Das Arbeitsamt finanzierte ihm eine berufsbegleitende Umschulung zum Hort-Erzieher. Parallel zu seiner Arbeit in einer jüdischen Schule machte er eine dreijährige Cranio-Sacral-Ausbildung.
Die hat er inzwischen abgeschlossen. Doch ist es ihm nicht erlaubt, Diagnosen zu stellen. Auch darf er das, was er tut, nicht »behandeln« nennen und die Menschen, die bei ihm Hilfe suchen, nicht als »Patienten« bezeichnen. Denn das Verfahren ist nicht anerkannt, wissenschaftlich lässt sich bis heute keine Wirksamkeit belegen.
»Natürlich muss es die Wissenschaft geben«, sagt Weinmann. »Aber es gibt eben auch Dinge jenseits der Wissenschaft.«
Viele glauben nicht daran, dass das, was Dennis Weinmann tut, tatsächlich hilft. »Doch auch, wenn sie nicht daran glauben, hilft es trotzdem«, ist Weinmann überzeugt. »Aber sie würden es niemals zugeben.«
So war es auch bei seinem Vater. Der sträubte sich lange dagegen – stellte sich aber, als der Sohn während der Ausbildung Probanden suchte, schließlich doch zur Verfügung. Und während er auf der Pritsche lag, schlief er ein. Hinterher sagte er, das sei die Zeit, in der er immer einschlafe. »Nein, das macht Cranio!«, sagt der Sohn mit Vehemenz. »Das ist Tiefenentspannung. Der Körper fängt an, sich zu regulieren. Da schlafen viele für einige Minuten ein.«
ÄRZTE Seit seiner Kindheit ist Dennis Weinmann Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde. Doch auch, wenn ihn dort viele kennen, rechnete er, als er seine Praxis eröffnete, nicht damit, dass ihm die Gemeindemitglieder die Tür einrennen würden. »Zwar kommen allmählich immer mehr, doch die meisten glauben vor allem an die Schulmedizin«, sagt er, »sie interessieren sich nicht so sehr für alternative Verfahren.« Vor allem Männer, erzählt Weinmann, stünden Cranio skeptisch gegenüber. »Sie sagen, es sei rausgeschmissenes Geld.«
Für eine Stunde auf seiner Pritsche verlangt Weinmann 80 Euro. Mindestens drei Behandlungen sollten es sein, sagt er. »Einige denken, nach dem ersten Mal sei schon alles weg«, doch brauche es seine Zeit, bis der Körper in den Ursprungszustand zurückkehre.
Manche kommen nach der ersten Stunde nicht wieder, andere können nicht genug kriegen und kehren bei allen möglichen Beschwerden zu Weinmann zurück. Sie erzählen Verwandten und Bekannten davon, dass ihre Schmerzen verschwunden seien – und sorgen auf diese Weise dafür, dass sich Weinmanns Praxis allmählich füllt.
Manche kommen nach der ersten Stunde nie wieder – andere können nicht genug kriegen.
Nach dem Corona-Lockdown durfte Weinmann Anfang Mai wieder loslegen. Er sandte einen Rundbrief an alle Kunden und schrieb, er habe die Arbeit wieder aufgenommen. Einige kamen sofort, doch die meisten zögerten mehrere Wochen, bis sie sich einen Termin geben ließen.
ACHTSAMKEIT Das Ende des Lockdowns hat ihm etliche neue Kunden beschert. »Ob das am Virus liegt, weiß ich nicht«, sagt Weinmann. »Vielleicht haben manche jetzt auch mehr Zeit – oder sie haben durch Corona tatsächlich mehr zu sich gefunden und sind achtsamer geworden.«
Seit Anfang Mai herrscht Maskenpflicht in Weinmanns Praxis – so schreiben es die österreichischen Behörden vor. Mitte Juni wurde sie zwar grundsätzlich aufgehoben, doch gilt sie für ihn und sein Gewerbe weiterhin, denn er kann bei seiner Arbeit den Sicherheitsabstand von 1,50 Metern nicht einhalten.
Dass sich nach der Corona-Krise noch niemand mit einem Tier bei ihm gemeldet hat, verwundert Dennis Weinmann. Herrchen und Frauchen könnten ganz unbesorgt sein, sagt er, Hunde und Kater müssten nicht maskiert erscheinen – die Regelung der Behörden gilt nur für Menschen.