Hätten sich die Belgier 1830 nicht gegen das 1815 entstandene Königreich der Niederlande aufgelehnt, um ihren eigenen Weg zu gehen, würden sie sich wahrscheinlich noch immer mit den Nachbarn dieselbe Heimat teilen. Und die Lütticher Juden hätten ein Problem weniger. Denn sie könnten nach ihrem Tod die unbegrenzte Ruhefrist genießen.
Doch leider garantierte der belgische Staat das ewige Ruherecht nicht. Darum hat man in der »Ville Ardente«, wie Lüttich sich wegen seines aufmüpfigen Charakters gern nennt, nach der Entzweiung eine Lösung ausgetüftelt: Die Verstorbenen überqueren die Grenze zu den Niederlanden.
Dort gibt es im Dörfchen Eijsden fünf Kilometer südlich von Maastricht einen kleinen jüdischen Friedhof. Da muss für ein paar Lütticher Juden auch noch Platz sein, wird man sich gedacht haben.
Schlüsselhalter Dimitri Boutylkov, Sekretär der Hauptsynagoge von Maastricht und Einwohner von Eijsden, weiß viel über die Geschichte des kleinen Friedhofs zu erzählen, auf dem es an die 300 Gräber gibt. Er hat den Schlüssel zum Guten Ort. »Wer den Friedhof besuchten möchte, kann mich anrufen«, sagt er, »dann komme ich und öffne das Tor.« Auch wenn man bei einer Bestattung keinen Minjan zusammenbekommt, kann man Boutylkov in Anspruch nehmen.
Das geschieht nicht mehr oft, denn in Eijsden leben nur noch wenige Juden, und ein Lütticher Begräbnis gibt es nur ein- bis zweimal im Jahr. Dies sei früher anders gewesen, sagt Boutylkov. »Vor mehr als zwei Jahrhunderten waren bis zu 15 Prozent der Einwohner Eijsdens jüdisch. Sie durften nicht in Maastricht leben. Das wollten die dortigen Zünfte nicht, der Konkurrenz wegen.« Die Juden handelten mit Käse, Tabak und Gewürzen, aber auch mit Gold und Silber. Also ließen sie sich im zehn Kilometer südlich von Maastricht entfernten Eijsden nieder. Und dort brauchten sie dann auch einen Friedhof.
Graf De Geloes, der das örtliche Schloss bewohnte, übergab ihnen eine Parzelle, damit sie ihre Toten im eigenen Dorf begraben konnten. Welche Gegenleistung der Adlige dafür bekommen hat, ist nicht bekannt. Vielleicht war er ein Philanthrop.
Weil das neue Königreich der Belgier nicht die ewige Ruhefrist gewähren wollte, schaute die jüdische Gemeinde Lüttich über die Grenze, wo es in Eijsden eine jüdische Gemeinschaft gab und auch einen Friedhof.
Weil das neue Königreich der Belgier nicht die ewige Ruhefrist gewähren wollte, schaute die jüdische Gemeinde Lüttich über die Grenze, wo es in Eijsden eine jüdische Gemeinschaft gab und auch einen Friedhof. Er war groß genug und reichte auch für die benachbarten Lütticher, denen man sogar einen eigenen Teil zuwies. Man liegt bis heute getrennt: die niederländischen Juden auf der einen Seite, die belgischen mit den französischen Grabinschriften auf der anderen.
Das wird wahrscheinlich auch so bleiben, denn viel passiert auf dem jüdischen Friedhof von Eijsden nicht mehr. Er bekommt, fast wie von selbst, mehr und mehr den Status eines Denkmals. Erinnerung an eine Zeit, in der die Lütticher Juden dem europäischen Gedanken eines grenzenlosen Europas ihre ganz eigene Auslegung gaben.
Maastricht »Die meisten Eijsdener Juden lassen sich auf dem allgemeinen Friedhof in Maastricht begraben, wo es auf dem jüdischen Teil reichlich Platz gibt«, sagt Dimitri Boutylkov. »Und diejenigen Juden aus Lüttich, die hier begraben werden wollen, haben bei uns meistens Angehörige liegen.«
Doch nicht mehr viele hegen diesen Wunsch. Dies ist ein Grund dafür, dass die jüdische Gemeinde schon in den 60er-Jahren etwa die Hälfte des damaligen Friedhofs an die Kommune Eijsden verkaufte, die sich als Gegenleistung dazu verpflichtete, den Friedhof instand zu halten, erzählt Boutylkov.
Dennoch gebe es derzeit ein Problem, das ihn bedrückt: Das »Metaheerhuisje«, wie eine Leichenhalle auf Niederländisch heißt, sei baufällig und müsse dringend saniert werden, aber dies koste einiges. »Wir sammeln Spenden und versuchen, die benötigte Summe zusammenzubekommen. Denn wie wollen, dass der Friedhof der Nachwelt in einem guten Zustand erhalten bleibt.«