Vor 40 Jahren – im September 1973 – stürzte in Chile das Militär den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende in einem sogar für damalige Verhältnisse unerhört blutigen Putsch. Danach errichtete Armeegeneral Augusto Pinochet Duarte eine Diktatur, die bis 1990 andauerte. Ungefähr 3000 Menschen wurden ermordet, rund 1100 weitere gelten bis heute als verschwunden. 80.000 Menschen saßen aus politischen Gründen im Gefängnis, mehr als 30.000 von ihnen wurden gefoltert, auch Frauen und Kinder.
Das Regime genoss lange Zeit die Unterstützung der Vereinigten Staaten. Kein Zweifel, Pinochet war ein Monster. Mit seinem maskenhaft-kalten Gesicht und seiner Sonnenbrille hat er das Bild des lateinamerikanischen Militärdiktators geprägt wie vielleicht kein anderer seiner mörderischen Kollegen. Aber war das Ungeheuer auch ein Antisemit?
Damit die Antwort besser verständlich wird, müssen wir dem oben gezeichneten Bild seinen historischen Hintergrund hinzufügen. Also: Salvador Allende war zwar demokratisch gewählt worden – aber er hatte 1973 längst aufgehört, populär zu sein. Er war kein Sozialdemokrat, sondern ein überzeugter Marxist, der die kubanischen Verhältnisse für ein Vorbild hielt.
Die untere Kammer des chilenischen Kongresses warf dem Präsidenten Verfassungsbruch vor. Im Land herrschte wirtschaftliches Chaos, im September 1973 stand es am Rand eines Bürgerkriegs. Nun unterschied Chile sich von anderen lateinamerikanischen Ländern dadurch, dass es dort eine Mittelklasse gab. Diese Mittelklasse hatte große Angst vor Salvador Allende und begrüßte daher den Putsch.
Sympathien In Chile lebten damals ungefähr 30.000 Juden. Beinahe alle gehörten der Mittelklasse an, und ihre politischen Sympathien unterschieden sich um kein Jota von denen ihrer christlichen Landsleute. 8000 chilenische Juden hatten das Land fluchtartig verlassen, als Allende gewählt wurde, weil sie fürchteten, der Staat werde ihr Eigentum beschlagnahmen. Nach dem Putsch kehrten die meisten von ihnen zurück.
Pinochet hat ihnen diese Loyalität nie vergessen – und sah dabei großzügig darüber hinweg, dass unter Allende auch ein paar Juden in hohen Positionen gedient hatten. Dieser Diktator brachte es fertig, gleichzeitig Hitlers Wehrmacht zu bewundern und mit der jüdischen Gemeinde zu flirten. Er war ein brutaler und fanatischer Antimarxist, aber kein Judenfeind. So gehörte es zu Pinochets Gewohnheiten, am Jom Kippur als Gast in den Synagogen von Santiago de Chile aufzutauchen. Er nahm Juden in sein Regime auf – etwa Sergio Melznick, der orthodox war und ihm als ökonomischer Berater diente.
Juden konnten sich in der chilenischen Armee hochdienen, ohne dass ihnen Steine in den Weg gelegt wurden. Das berühmteste Beispiel ist General José Berdichewsky, ein überzeugter Unterstützer der Diktatur, der fließend Jiddisch sprach und in den 70er-Jahren als Chiles Botschafter in Israel diente. Apropos: Die Beziehungen Chiles zu Israel waren in all den Jahren der Militärdiktatur hervorragend. Vor allem die Luftwaffen beider Länder arbeiteten gelegentlich zusammen. Allerdings wurde Pinochet nie zu einem Staatsbesuch eingeladen.
Militärregime Durch den Mangel an Antisemitismus unterschied das chilenische Militärregime sich deutlich von seinen Nachahmern in Argentinien. Jene kamen 1976 an die Macht. Zumindest Teile der argentinischen Militärjunta glaubten allen Ernstes, die Juden hätten sich mittels Psychoanalyse und Marxismus gegen die christlich-abendländische Zivilisation verschworen. Als der linke Journalist Jacobo Timerman in Argentinien gefangen genommen und mit Elektroschocks gefoltert wurde, warfen seine Vernehmer ihm vor, er sei Teil einer zionistischen Clique, die Argentinien unterwandern wolle.
Pinochet hätte solch einen Unsinn nie behauptet. Unter seiner Diktatur wurde zwar die Colonia Dignidad gefördert – ein festungsartiges deutsches Dorf, das von dem Nazi und pädophilen Sektengründer Paul Schäfer regiert wurde. Gleichzeitig tastete Pinochet, der Tyrann mit der Sonnenbrille, die jüdische Gemeinde nicht an. Diese wiederum vermied es tunlich, von der Colonia Dignidad zu sprechen. Damit verhielten die Juden sich – wie gesagt – nicht besser oder schlechter als die anderen, die nichtjüdischen Chilenen.
Gewiss, es gab auch Juden unter den Gegnern der Militärdiktatur. Der berühmteste unter ihnen war der Journalist und Anwalt Volodia Teitelboim – ein Kommunist, der zu den engsten Freunden des Dichters und Schriftstellers Pablo Neruda zählte. Ein anderes prominentes Beispiel: der Schriftsteller Ariel Dorfman, ein kultureller Berater von Salvador Allende. Durch den Putsch wurde er ins amerikanische Exil gezwungen. Aber es wäre ein Fehler zu glauben, solche Linksintellektuellen hätten am 11. September 1973 für eine mehrheitsfähige Meinung gestanden.
Wirtschaftsliberal Der jüdisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman allerdings – um endlich ein Gerücht zu Grabe zu tragen, das sich immer noch großer Beliebtheit erfreut – hat der chilenischen Militärdiktatur nie als Berater zur Seite gestanden. Er ist nur gelegentlich nach Chile gereist und hat dabei inoffiziell mit Pinochet gesprochen. Und manche seiner Schüler, die »Chicago Boys«, haben in Chile ökonomische Seminare gehalten. Ungewöhnlich war daran vor allem, dass das Regime sie gewähren ließ. Schließlich bildete es die fundamentalste Überzeugung der Chicago Boys, dass eine Volkswirtschaft besser funktioniert, wenn man nicht versucht, sie von oben herumzukommandieren. Anders gesagt: Der Wirtschaftsliberalismus bedeutete einen freiwilligen Machtverzicht des Regimes. Der Trick, mit dem Pinochet sich davon überzeugen ließ: Die Chicago Boys steckten ihm, dass die Linken den Wirtschaftsliberalismus hassen – schon war der Diktator dafür.
Wie ist es heute? Viele der Juden von Santiago leben immer noch in Las Condes, einem Villenvorort im Nordwesten der Hauptstadt, hinter dem sich majestätisch die Schneegipfel der Anden erheben. Dort ist gerade eben ein neues Gemeindezentrum mit Synagoge eröffnet worden: ein moderner, von Licht durchfluteter Komplex mit einem Springbrunnen in Form einer Menora davor und einem fußballfeldgroßen Rasen dahinter. Die Sicherheitsvorkehrungen sind imposant – beinahe noch strenger, als man sie aus Deutschland kennt. Der Besucher kommt nur dann herein, wenn er seinen Pass vorzeigt; dann fährt eine Stahlschleuse auf, die notfalls einen Panzer aufhalten könnte und lässt ihn ausnahmsweise passieren.
Ist man aber erst einmal drin, wird man mit großer Wärme und Herzlichkeit empfangen. Die finsteren Jahre der Diktatur sind auch hier passé. Die Sicherheitsvorkehrungen haben nicht das Geringste mit den ideologischen Wirren der 70er-Jahre zu tun; sie sind auch kein Indiz, dass die normalen Chilenen besonders antisemitisch wären. Sie haben nur einen einzigen Grund: In Chile lebt die größte palästinensische Exilgemeinde Lateinamerikas. Und die Erinnerungen an den Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Buenos Aires von 1994 sind noch frisch.