Herr Ross, Sie haben kurz vor dem Brexit als Sohn eines jüdischen Vaters die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Mit welchen Gefühlen sehen Sie der bevorstehenden Abstimmung des Unterhauses zum EU-Austritt entgegen?
Mit gemischten Gefühlen. Aber Großbritannien hat die Angewohnheit, sich selbst ins Knie zu schießen. Wir haben es versäumt, uns mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass wir im Vergleich zu anderen Staaten ein Land sind, das sich nicht weiterentwickelt. Die Hälfte der Bevölkerung fühlt sich außen vor gelassen, und sie macht andere Menschen dafür verantwortlich.
Wo sehen Sie Europa und Großbritannien in fünf Jahren?
Der Brexit wird Europa schaden – anfangs auf jeden Fall. Und man wird erkennen, welches heillose Durcheinander Großbritannien mit seinem Austritt verursacht hat. Vielen Ländern, in denen ein Großteil der Bevölkerung wohl auch gern die EU verlassen würde, wird schnell klar werden, dass sie keinesfalls dem Vereinigten Königreich folgen möchten. Vielleicht hilft das, Europa zu einigen. Aber – und das sage ich als überzeugter Remainer – Europa ist eine Katastrophe.
Weshalb?
Weil die Politiker sehr verzweifelt versucht haben, die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen. Viel schneller, als die Bevölkerung dazu bereit war. Das hat die Menschen zunächst einmal etwas ratlos und dann verbittert zurückgelassen. In Europa sind alle möglichen absurden Dinge passiert, aber auch viele schöne! Und einige Länder haben so viel mehr daraus gemacht als wir: Irland zum Beispiel oder auch Deutschland. Den Briten zu erklären, wie sie von Europa profitieren könnten, war sehr schwierig. Wenn Sie 100 Briten – auch EU-Befürworter – fragen würden, was das Positive an Europa für sie ist, könnten sie das nur sehr schwer beantworten.
Was hätte denn die Briten davon überzeugen können, in der Europäischen Union zu bleiben?
Ich denke, dass das, was die Leute hätte umstimmen können, Wohlstand gewesen wäre. Hätte es in Europa und speziell in Großbritannien konstantes Wachstum gegeben und wäre dies gleichmäßig verteilt worden, dann hätte es diese Wut nicht gegeben.
Laut einer YouGov-Umfrage befürworten 53 Prozent ein zweites Referendum, 47 Prozent sind dagegen. Was sagen Sie?
Ich weiß nicht, ob das überhaupt das Problem löst. Wenn wir ein neues Referendum hätten, und es käme heraus, dass wir mit einem knappen Ergebnis in der EU blieben, was würde das bedeuten? Die Hälfte der Menschen wäre sauer und würde sich betrogen fühlen. Wenn es den Austritt bestätigen würde, wohin würde uns das führen? Unser Land ist tief gespalten. Ich kenne Familien, die so uneins über das Thema sind, dass sie nicht mehr miteinander sprechen. Ich weiß, dass die Deutschen langsam die Nase voll haben von Angela Merkel, aber das ist das Schicksal eines jeden, der lange regiert. Nur mit dem Unterschied, dass Deutschland mit Angela Merkel eine Politikerin von Weltformat hat. Großbritannien ist politischen Talents beraubt. Wir haben – wenn ich es mal so formuliere – sehr eigenartige Premierminister gehabt. Wir haben einen Oppositionsführer, der vielleicht so links ist wie keiner zuvor in der Spitze der britischen Politik. Wir haben ein politisches Vakuum. Unser Land ist tief gespalten. Ich kenne Familien, die so uneins über das Thema sind, dass sie nicht miteinander sprechen. Es ist ein Thema, das enormen Groll hervorbringt. Dieses Plebiszit war von vornherein das Problem.
2017 haben 7500 britische Staatsbürger die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Sie sind einer davon. Weshalb haben Sie sich zu diesem Schritt entschlossen?
Es lag nicht am Brexit. Es hatte eher damit etwas zu tun, dass ich mich gefragt habe, wo kommen eigentlich meine Großeltern her? In Berlin, wo mein Vater geboren wurde, gibt es zum Beispiel nichts mehr, wonach ich suchen kann. Aber an dem Ort, an dem mein Großvater zur Welt kam, dort stand noch das Haus so, wie es meine Großtante beschrieben hatte.
Wie empfanden Sie die Reise in die Vergangenheit Ihrer Familie?
Ich hatte ein ganz außergewöhnliches Erlebnis mit den Menschen dort. Zuerst haben sie mich vielleicht für einen Einbrecher gehalten, denn ich habe hier und da in Fenster hineingeschaut. Aber ihnen zu begegnen, hat mich schon fast zu Tränen gerührt. Ich konnte gar nicht glauben, wie freundlich die Menschen waren. Hinzu kam, einer meiner Söhne ist kürzlich aus Japan zurückgekehrt, wo er sich auch den Gedenkort in Hiroshima angesehen hatte. Er erzählte mir, dass es fast so wirkte, als wäre das alte, arme, kleine Japan von diesen entsetzlich mächtigen Ländern angegriffen worden. Hier in Deutschland ist das genaue Gegenteil davon passiert. Denn die Menschen in diesem Land haben ihre Vergangenheit akzeptiert und gehen damit um aufrichtig um. Mein Vater hatte alles Deutsche abgelegt und auch mit uns kein Deutsch gesprochen. Meine Großmutter ist niemals nach Deutschland zurückgekehrt. Ich habe mich um die deutsche Staatsbürgerschaft bemüht, weil ich damit sagen wollte: Ich bewundere Deutschland, und: Deutschland, ich bin an deiner Seite.
Hat die Staatsbürgerschaft Einfluss auf Ihre Identität als Sohn einer jüdischen Familie?
Nun, ich habe mich eigentlich nie wirklich jüdisch gefühlt. Auch deswegen, weil mein Vater gar nicht religiös war. Wir hatten also keine Freitagabende, obwohl viele unserer Verwandten und Freunde sich trafen. Meine Frau ist Jüdin, und ihre Eltern hielten Freitagabend den Schabbat. Kurzum: Ich habe mich nicht jüdisch gefühlt, es sei denn, wenn Juden angegriffen werden. Dann bin auch ich Jude.
Wie hat eigentlich Ihre Familie auf Ihre Absicht reagiert, Deutscher zu werden?
Meine Großmutter ist schon lange tot, aber ich denke, sie wäre entsetzt gewesen. Meinem Vater hätte es gefallen. Er kehrte schlussendlich nach Deutschland zurück, widerwillig zwar, aber er traf alte Schulfreunde und war erstaunt darüber, wie schnell die Jahrzehnte dahingeschmolzen waren. Sein Leben als Teenager in den 30er-Jahren in Berlin muss so schwierig gewesen sein, dass es kein Wunder war, dass er eigentlich nicht zurückwollte. Auch meiner Mutter hätte es sehr gefallen, denn sie war immer daran interessiert, Wunden zu schließen. Was den Rest meiner Familie anbelangt: Meine Söhne stehen dem Ganzen – zu meiner Überraschung – ganz positiv gegenüber. Nicht, weil sie in Deutschland leben wollen, sondern weil sie sich solidarisch mit der Geschichte der Familie zeigen wollen.
Ihre Söhne zählen zu der Generation, die in der Europäischen Union bleiben will.
Sie sind komplett perplex darüber, was diese älteren Menschen da überhaupt wollen. Und ziemlich verblüfft, warum gerade Menschen, die in Gegenden Großbritanniens leben, in denen es nur wenige Migranten gibt – Cornwall oder der Südwesten –, so unbedingt aus der Europäischen Union aussteigen wollen.
Wann werden Sie Deutschland zum nächsten Mal besuchen?
Ich liebe München und auch Berlin und komme definitiv zurück. Außerdem habe ich mir vorgenommen, Deutsch zu lernen. Ich weiß aber auch, dass ich 71 Jahre alt bin und wahrscheinlich 110 sein werde, bis ich deutsch sprechen kann.
Mit dem BBC-Journalisten sprach Katrin Richter.