Wer Marseille genießen will, der muss früh aufstehen und zum Alten Hafen hinunter gehen, gleichsam Bauch und Seele der Mittelmeermetropole. Die Stadt, die Frankreichs zweitgrößte jüdische Gemeinde mit rund 80.000 Mitgliedern beherbergt, ist am schönsten, wenn sich noch keine stinkende Schlange aus Bussen und Autos durch die Innenstadt schiebt. Um sieben Uhr morgens erwacht die Stadt träge aus ihrem sommerlichen Schlaf.
Am Hafen herrschen die Fischverkäufer: Seewolf, Sardinen, aber auch ganze Tintenfische, getrocknete Seesterne und kleine Muscheln als Glücksbringer. Hier bekommt man alle Zutaten für die traditionelle Fischsuppe Bouillabaisse, früher ein aus Abfällen zubereitetes Arme-Leute-Essen. Heute kostet die Suppe in den Restaurants um den Hafen rund 30 Euro pro Person. Hier legen auch die als öffentliche Verkehrsmittel genutzten Boote zu den Stränden von Marseille und auf die malerischen Frioul-Inseln ab. Wem es nichts ausmacht zu warten, der entkommt der drückenden Luft der Stadt für sechs Euro hin und zurück.
Joseph Roth Juden sind in Marseille und der Provence bereits seit dem Mittelalter ansässig, wie Alexander Kluy in seinem Buch Jüdisches Marseille und die Provence schreibt. Der touristische Streifzug auf jüdischen Routen zeichnet die Geschichte genau und mit einem Blick fürs Wesentliche nach. Er versammelt zudem lesenswerte Auszüge aus den Berichten berühmter Literaten zur Stadt.
Der Schriftsteller Joseph Roth hielt sich Anfang 1929 im Grand Hôtel Beauveau auf und liefert eine auch heute noch stimmige Beschreibung der Mittelmeermetropole: »Marseille ist New York und Singapur, Hamburg und Kalkutta, Alexandria und Port Arthur, San Francisco und Odessa.« Und über den damals verruchten Alten Hafen berichtet Roth: »Das Boot der armen Schiffer schwimmt hart neben dem großen Ozeandampfer. Muscheln liegen neben den Auslagen der Brillantenhändler. Der Flickschuster verkauft korsische Messer.
Der Ansichtskartenhändler bietet Schlangengift feil. Den ganzen Tag spielen die Kinos im Alten Hafen. Jede Stunde läuft ein Schiff ein. Jede zehnte Welle spült Fremde ans Land wie Fische. Der Chinese macht im Kaffeehaus mit dem algerischen Juden. (…) Das Leben tanzt auf der Klinge eines Rasiermessers, das im Hafen als Waffe beliebt ist. Das Elend ist tief wie das Meer, das Laster ist frei wie die Wolke.«
Auch wenn Kluys Buch kein Reiseführer ist, liefert es doch einige praktische Informationen wie Adressen jüdischer Einrichtungen und koscherer Restaurants für einen Aufenthalt in Marseille. Rund eine Viertelstunde Fußmarsch vom Alten Hafen steht die älteste Synagoge der Stadt in der Rue Breteuil. Heute am Schabbat sind noch nicht viele Beter gekommen. Ich treffe Jérémy, der gerade seinen Abschluss in Rechtswissenschaften macht und vielleicht Anwalt werden will. Er arbeitet als Freiwilliger beim Wachdienst.
Viertel »Die Synagoge ist zwar die älteste von Marseille, aber dennoch kommen nicht viele Gläubige hierher«, sagt er. Anders als in Paris gebe es kein wirklich jüdisches Viertel, Juden lebten in der ganzen Stadt. Insgesamt zählt ganz Marseille 44 Synagogen, die jeden Tag von mehr als 5000 Gläubigen aufgesucht werden und in denen 48 Rabbiner wirken. Es hat damit die bedeutendste jüdische Gemeinde im Mittelmeerraum, von Israel einmal abgesehen.
In diesem Jahr ist Marseille Kulturhauptstadt Europas. Wer es also bereist, der sollte die zahlreichen Ausstellungen und Events auf keinen Fall missen, zumal sich viele jüdische und israelische Künstler daran beteiligen. Besonders empfiehlt sich ein Besuch im neuen Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers. Der beeindruckende Glasbau befindet sich am Eingang des Hafens, und man erreicht es über eine Brücke. Zur ständigen Ausstellung über den Mittelmeerraum zählt auch ein Abschnitt über die Architektur und die heiligen Stätten Jerusalems.
Alexander Kluy: »Jüdisches Marseille und die Provence«. Wien 2013, 298 S., 19,90 €.