Der Zweite Wiener Bezirk, die Leopoldstadt, das Herz jüdischen Lebens, ist in diesen Tagen vollkommen still. Normalerweise sitzen Jugendliche mit Gitarre und Bier am Kai des Donaukanals, toben Kinder auf den Spielplätzen, und in diesen Frühlingstagen öffnen üblicherweise die Cafés oder Restaurants wie das »Tel Aviv Beach«. Doch jetzt ist hier alles verwaist.
Einige Spaziergänger und Jogger geben sich Mühe, unter Einhaltung der Abstandsregel aneinander vorbeizueilen. Ruhe auch in der Gegend rund um den Karmelitermarkt. Hier ist eigentlich das Zentrum des öffentlichen Lebens, doch Restaurants wie das »Tewa« sind geschlossen, ebenso wie die 23 Synagogen der Stadt.
Lediglich fünf koschere Supermärkte halten ihren Betrieb aufrecht.
Lediglich fünf koschere Supermärkte halten ihren Betrieb aufrecht. Neuerdings sind sie am Eingang mit Desinfektionsstationen ausgestattet und mit Hinweisen auf die Abstandsregeln. Der Verkauf geht weiter, und das Angebot ist auch mit Blick auf das bevorstehende Sederfest gut sortiert.
WebCam Schlomo Hofmeister, der Gemeinderabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, sitzt den größten Teil des Tages am Telefon und vor seiner Webcam. »Ich liebe meinen Beruf«, sagt er, »weil er für mich auch eine Berufung ist. Aber sehr lange halten wir das, was wir hier tun, nicht mehr durch.«
Seit Österreich aufgrund von Covid-19 Ausgangssperren verhängt hat, stehen die Telefone im Rabbinat nicht still. »Wir haben es mit einer Multiplizierung der normalen Herausforderungen zu tun«, sagt Hofmeister. Konkret bedeutet das: eine 100-Stunden Woche und Einsatz bis zur Erschöpfung. In manchen Familien eskaliert allmählich das soziale Gefüge. Häusliche Gewalt oder zumindest psychischer Druck bauen sich auf.
Ansprechpartner für viele Juden ist in dieser Situation Rabbiner Hofmeister. »Wir sehen eine enorme psychische Belastung in den Haushalten, verstärkt durch die oft ungeklärte Arbeitsaufteilung unter Eheleuten, durch das Homeschooling der Kinder und die Unsicherheit, wie lange die Situation noch andauert. Und natürlich geht es auch um pure Existenzen. All das macht vielen Menschen mehr Angst als das Virus an sich und sorgt für erschreckende Situationen«, sagt der Rabbiner.
Derzeit steht er in ständigem Kontakt mit dem Jugendamt, der Polizei und den staatlichen Behörden – Krisenmanagement auf vielen Ebenen.
Homeoffice Auch Oskar Deutsch, der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde, arbeitet derzeit im Homeoffice. Traditionell reist er zu Pessach nach Israel. Weil das in diesem Jahr nicht geht, bleibt er mit seiner Familie in Wien. »Das Tragische ist, dass die Großmutter nur 500 Meter entfernt wohnt«, sagt er, »aber wir haben uns entschlossen – und plädieren bei allen Mitgliedern dafür –, den staatlichen Anweisungen zu folgen und sie zum Sederfest nicht zu besuchen. Auch, wenn diese Situation unendlich schmerzvoll ist.«
Ähnliche Probleme erreichen Rabbiner Schlomo Hofmeister jeden Tag. In der Regel handelt es sich um praktische Fragen, besonders von säkularisierten Familien, die jüdischen Rituale gerade wieder neu entdecken. »Sie wollen wissen› wie sie den Sederabend korrekt feiern oder erklären mir: ›Ich war so oft in der Synagoge, aber kannst du mir beim Gebet helfen?‹«
Bei all dem sieht Rabbiner Hofmeister auch Positives: »Was gerade passiert, ist, dass das jüdische Bürgertum eine uralte Tradition neu belebt, indem sie das jüdische Leben und die jüdische Tradition wieder nach Hause holt. Synagogen sind wichtig, aber was wäre das Judentum ohne den alltäglich, in Eigeninitiative gefeierten Glauben?«
Rituale Für Schlomo Hofmeister steht nicht nur die Welt Kopf. Es werden auch die üblichen Rituale vollkommen neu befragt: »Es ist fast amüsant, dass sich jetzt viele Schüler unheimlich auf die Schule freuen, dass viele Menschen glücklich wären, wenn sie endlich wieder zur Arbeit gehen könnten – und: Natürlich entdecken viele Juden, für die der Glaube eine kleine alltägliche Pflichtübung war, dass er gerade in diesen Zeiten großen, existenziellen, geistigen und praktischen Halt gibt.«
Die ungeklärte Aufteilung der Arbeit unter Eheleuten belastet viele Familien.
So wie die Großmutter in der Familie von Oskar Deutsch werden dieses Jahr viele den Sederabend allein verbringen müssen. Normalerweise bestellt Rabbiner Hofmeister 30 oder 40 Seder-Sets für Menschen, die durch unvorhersehbare Umstände, durch Krankheit oder den Tod eines Partners, den Abend allein verbringen müssen.
Oskar Deutsch erinnert daran, dass die Israelitische Kultusgemeinde normalerweise eine Sederfeier für rund 160 einsame Menschen in einem Hotel organisiert. Das ist nun natürlich nicht möglich. Für alle Singles, Witwen oder Witwer und Menschen, die ihre Angehörigen derzeit nicht treffen können, hat Rabbiner Hofmeister inzwischen 300 Seder-Sets organisiert. »In Wien ist all das auch gut möglich«, sagt der Rabbiner, »in den Bundesländern sieht die Situation schon ganz anders aus: Hier haben wir eine viel dünnere Struktur, und ich höre, dass viele Gemeinden auf dem Land pure Existenzangst haben.«
Überhaupt gewinnt das Wort »Gemeinde« derzeit wieder an Bedeutung: 8000 Mitglieder hat die jüdische Kultusgemeinde in Wien, und für Oskar Deutsch ist es in diesen Tagen besonders wichtig, »den Geist aufrechtzuerhalten«.
Atemübungen Ein Newsletter der Kultusgemeinde informiert über die neuesten Entwicklungen in der Corona-Krise. »Aber es ist auch wichtig, für etwas Ablenkung zu sorgen«, sagt Deutsch. Mit dem Newsletter verschickt er auch ein Video mit Atemübungen, Grußworte des designierten Oberrabbiners Jaron Engelmayer oder augenzwinkernde Quarantäne-Tipps von Natan Sharansky, der Ende der 70er-Jahre 405 Tage wegen »zionistischer Aktivitäten« in einer russischen Gefängniszelle saß.
Natürlich streamt die Kultusgemeinde zweimal täglich Gebete und organisiert konkrete Hilfen: Drei Mäzene haben einen Krisen-Fonds mit 250.000 Euro gefüllt – für Menschen, die nicht unter den staatlichen Hilfsschirm fallen. Außerdem hat die Kultusgemeinde Desinfektionsmittel an die koscheren Geschäfte verteilt und einen Einkaufsdienst auf die Beine gestellt.
Auch bei Rabbiner Hofmeister gibt es in diesen Tagen übermäßig viel zu tun. Sein Telefon klingelt schon wieder. Der größte Wunsch des Rabbiners: »So etwas wie Sicherheit, wann all das zu Ende ist.« Und dann will er endlich wieder in der Synagoge feiern und irgendwann einfach nur Urlaub machen.