»Ich kann Ihnen nicht sagen, wie enttäuscht ich über die Worte des ehemaligen Parteivorsitzenden war», erklärte am Sonntag Keir Starmer, seit April Chef der Labour-Partei. Seine Bemerkung galt Jeremy Corbyn.
Dieser hatte am 29. Oktober, kurz nachdem die britische Gleichberechtigungs- und Menschenrechtskommission (EHRC) ihren Bericht über den Antisemitismus in der Partei veröffentlicht hatte, erklärt, der Antisemitismus in der Partei werde überspitzt dargestellt. «Es ist eine Situation, in der ich nicht sein wollte», sagte Starmer vor mehr als 650 zugeschalteten Teilnehmern einer eintägigen «Zoom»-Konferenz der britischen jüdischen Arbeiterbewegung Jewish Labour Movement (JLM).
schritte Seiner Meinung nach würden die nächsten Schritte deswegen schwerer sein. «Ich hatte gehofft, dass der 29. Oktober den Opfern des Hasses gilt. Stattdessen richtete sich alle Aufmerksamkeit auf ihn selbst», bemerkte Starmer, der auf der Konferenz im Gespräch mit der jüdischen Labour-Abgeordneten Ruth Smeeth auftrat.
Bis zum 10. Dezember muss die Partei einen Maßnahmenplan erstellen.
In dem Bericht der EHRC wird festgestellt, dass Labour gegen das britische Gleichberechtigungsgesetz verstoßen hat, indem auf antisemitische Vorfälle nicht adäquat reagiert wurde, ja, dass sich das Büro von Parteichef Corbyn in einige Verfahren sogar persönlich einmischte.
Laut dem Bericht stellen die erwähnten Fälle nur die Spitze des Eisbergs dar. Die Partei müsse jetzt sofort handeln. Labour ist die zweite politische Partei überhaupt, die von der EHRC untersucht wurde – die erste war die britische Nazipartei BNP.
BESCHWERDE Starmer dankte dem JLM für seine Einladung. Es mag als Schritt zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Labour und den britischen Juden verstanden werden, denn die 1903 gegründete Bewegung war Mitkläger der EHRC-Beschwerde gegen die Partei. 2019 hatte sie sogar den Entschluss fassen müssen, Labour bei den Unterhauswahlen nicht zu unterstützen.
Nachdem der Parteivorstand Jeremy Corbyn Ende Oktober für seine Bemerkung, der Antisemitismus werde überspitzt dargestellt, vorübergehend aus der Partei ausgeschlossen hatte, begannen erneute Angriffe auf jüdische Parteimitglieder.
Zwar wurde Corbyn nach einer Art Entschuldigung am 18. November wieder in die Partei aufgenommen, doch darf er nach wie vor nicht als Labour-Mitglied im Parlament sitzen. So wollte es sein Nachfolger Keir Starmer, dessen Partei sich derzeit beeilt, auf den Bericht der EHRC zu reagieren.
Bis zum 10. Dezember muss die Partei einen konkreten Plan einreichen.
Einer der wichtigsten Punkte darin wird sein, ein unabhängiges Beschwerdesystem aufzustellen sowie ein Bildungsprogramm ins Leben zu rufen, das alle, die in Zukunft eine führende Position in der Partei einnehmen wollen, absolvieren müssten – so Starmers Forderung.
Auf die Frage, wie er es anstellen wolle, dass sich die Dinge ändern, erklärte der Labour-Chef, es gehe darum, von oben eindeutig klarzustellen, welche Art Partei Labour ist.
GLAUBWÜRDIGKEIT «Wir müssen eindeutig sein, dürfen keinen Antisemitismus tolerieren und müssen dementsprechend handeln», forderte Starmer und betonte seine Rolle dabei: «Ich muss die Nulltoleranz anführen», versprach er mehrmals, denn dies sei «ein Kampf um die Seele der Partei». Es gehe hierbei vor allem um Glaubwürdigkeit.
Als einer der Genossen ihn fragte, wann das Mobbing jüdischer Mitglieder enden würde – seit der Kontroverse um Corbyn gibt es zahlreiche erhitzte Diskussionen auf Orts- und Kreisverbandsebene –, beschrieb Starmer zwei verschiedene Typen von Parteimitgliedern: Zum einen gebe es Menschen, die antisemitisch seien, zum anderen jene, die sich einer «Kultur des Nichtwahrhabenwollens» anschlössen. Von ihnen kämen Vorwürfe der Übertreibung und dass es bei Antisemitismusvorwürfen nur um einen Kampf zwischen verschiedenen Flügeln der Partei gehe. Beide Seiten dürften nicht mehr toleriert werden, insistierte Starmer.
«Mein Test, ob die Maßnahmen greifen, ist, ob jüdische Menschen, darunter auch jene, welche die Partei verlassen haben, eine Rückkehr erwägen können oder eine Parteimitgliedschaft beginnen», sagte er, bevor er über generelle politische Themen sprach.
Er erinnerte daran, dass Labour 2019 das schlechteste Wahlergebnis seit 1935 einfuhr, und betonte, er sehe es als seine Aufgabe, die Partei bei den Wahlen 2023 zu einer künftigen Regierungspartei zu machen. «Es wird zwar schwer sein, aber es ist möglich.»
PANEL In einer anderen Veranstaltung im Rahmen der Jahreskonferenz sprach der ehemalige Londoner Labour-Stadtrat Adam Langleben. Er war in den vergangenen Jahren innerhalb der Partei in hohem Maße antisemitisch angefeindet worden, worauf er sich nicht mehr hatte zur Wahl aufstellen lassen. In seinem Panel ging es um die Frage, weshalb die Situation in der Partei derzeit so geladen sei.
«Die Linke will nicht akzeptieren, dass der Antisemitismus genau in dem Moment zunahm, als sie glaubte, dass ihre Politik Erfolg hatte, ja, sich auf der Überholspur befand», erklärte Langleben.
Langleben und andere sagten, es gebe in der Partei ein großes Missverständnis: Man nehme an, es gehe derzeit um Corbyn und nicht um die Ergebnisse des EHRC-Berichts. «Sie können diese Diskussion nicht ertragen, weil es einen Teil ihrer Politik zerstört.» Doch sei er zuversichtlich, sagte Langleben, denn er habe das Gefühl, dass die Parteispitze und die meisten Mitglieder die Lage verstehen und ein richtiges Vorgehen unterstützen.
Dass dies nicht alle betrifft, zeigte am Tag zuvor eine Veranstaltung der linken Bewegungen Momentum und Arise. Dort sprachen Mitglieder der sozialistischen Gruppe innerhalb der Fraktion zur Verteidigung Jeremy Corbyns. Über den Antisemitismus und den Bericht der EHRC schwiegen sie größtenteils. Stattdessen hoben sie Corbyns Errungenschaften hervor.